Michael Schneider schreibt im Oktober 1971 in der wichtigen, von Hans Magnus Enzensberger in hoher Auflage herausgegebenen Zeitschrift «Kursbuch» den Aufsatz «Über den linken Dogmatismus, eine ´Alterskrankheit des Kommunismus´». In ihm attestiert er, in Anspielung auf das berühmte Lenin-Zitat, den vielen sog. «Schulungsgruppen» rund um die maoistisch- kommunistischen Parteien und Bünde, dass diese vor allem ein einziges «psychisches Elend» seien. Gringmuth untersucht in seiner (literaturwissenschaftlichen) Dissertation den Umbruch der Jahre 1969 bis 1971, und seine Folgen näher. In diesen Jahren transformierte sich die mehrheitlich antiautoritäre Revolte der langen 60er Jahre in das Korsett einer um die Trias «Schulung – Untersuchung – Organisationsaufbau» kreisenden Politik.
Gringmuth skizziert eingangs die Vorgeschichte der «Studentenbewegung» und ihrer Theorierezeption, hier vor allem die «Kritische Theorie», aber auch Lukács und Mao; wie auch die gesamtgesellschaftlichen Trends und Umbrüche dieser Jahre. Als Untersuchungsgegenstand nimmt er sich dann aber (nur) die von 22. Februar 1969 bis November 1975 erscheinende Zeitung «Rote Pressekorrespondenz» (RPK) vor, den er mit biografischen Interviews mit vielen ZeitzeugInnen erweitert. Die RPK ist neben der linksradikalen «agit 883» und dem «Berliner Extra-Dienst» für ihn die wichtigste Zeitschrift der außerparlamentarischen Gruppen dieser Periode. In einigen Aspekten vergleicht Gringmuth sie auch. Die RPK wird mit Nr. 118 (vom 4. Juni 1971) das Organ des Studentenverbandes der an China orientierten Kommunistischen Partei Deutschland/Aufbau-Organisation (KPD/AO, sog. «Semler-KPD») und später der Partei selbst.
Als Ergebnis liegt ein ausführliches Panorama jener Jahre vor, das vor allem um die Ereignisse in Berlin kreist. Trotz des Anspruchs in den Betrieben zu wirken, war der vorrangige Aktionsraum dieser Zeit (zumindest bis Mitte der 1970er Jahre) die Universität. Es werden aber auch angelagerte Aspekte wie Szenekommunikation in Kneipen, Buchläden und Kleinanzeigen mit in den Blick genommen. Das Buch endet mit der «Etablierung» der Alternativbewegung, die aus neuen politischen Generationen entsteht, und ebenso aus der Abkehr von der «proletarischen Phase» ab spätestens 1975. Viele Kommunist*innen werden, wenn die Berufsverbote dies nicht verhindern, schlicht Lehrer*- oder Sozialarbeiter*innen. Aus dem Klassenkampf wird - Pädagogik.
Die Geschlechterverhältnisse werden in dem umfangreichen Werk kaum thematisiert. Die marxistisch-leninistischen sog. K-Gruppen sind zahlenmäßig die größte linksradikale Strömung im Westdeutschland der 1970er. Dafür sind sie bisher vergleichsweise wenig erforscht, Gringmuths Buch ist ein kleiner, wenn auch stellenweise zäher Beitrag zur Behebung dieses Missstandes.
Sven Gringmuth: Was war die Proletarische Wende? Ein Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der bundesrepublikanischen Linken, Verlag Westfälisches Dampfboot, Münster 2020, 442 Seiten, 44 EUR