Inmitten einer tiefen politischen und wirtschaftlichen Krise fanden am 6. Februar in Costa Rica der erste Wahlgang der Präsidentschaftswahlen sowie Wahlen zur Legislativversammlung, dem costa-ricanischen Parlament, statt. Da kein Kandidat die erforderlichen 40 Prozent der Stimmen erhielt, kommt es am 3. April zur Stichwahl zwischen José María Figueres von der PLN (Partei der Nationalen Befreiung) und Rodrigo Chaves von der neugegründeten PPSD (Sozialdemokratische Fortschrittspartei). Beide Kandidaten positionieren sich klar wirtschaftsliberal. Die linke Partei Frente Amplio (Breite Front) konnte ihr Wahlergebnis von 2018 deutlich verbessern und zieht mit sechs Abgeordneten in das Parlament ein. Eine von ihnen ist Rocío Alfaro. Die 49-jährige Hochschuldozentin ist Gründungsmitglied der Partei und seit vielen Jahren in sozialen Bewegungen engagiert. Für das Lateinamerika-Referat der Rosa-Luxemburg-Stiftung sprach Nikolas Grimm mit ihr über die politische Lage im Land vor dem zweiten Wahlgang.
José María Figueres, der bei den costa-ricanischen Präsidentschaftswahlen nach dem ersten Wahlgang am 6. Februar vorne lag, sprach in Folge von einem «Fest der Demokratie». Wie sehen Sie das?
Mir ist eigentlich nicht danach zu Mute, Feste zu feiern. Ich bin eher traurig und besorgt. Während der letzten beiden Regierungen wurden die demokratischen Institutionen Costa Ricas beschädigt und wir haben ein ernstes Problem mit der ungerechten Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums. Die amtierende Regierung Carlos Alvarado von der Partei PAC (Bürgeraktionspartei) hat eine Steuerreform und Sparmaßnahmen für den öffentlichen Sektor erlassen. Gegen die Reform gab es 2018 den größten Streik der jüngeren Geschichte des Landes, im gesamten öffentlichen Sektor legten Angestellte über einen Monat die Arbeit nieder, die Lehrer*innen streikten sogar drei Monate. Die Regierung reagierte ungewohnt autoritär. Man lud 2019 zwar an den Verhandlungstisch, überging dort aber alle Forderungen, mit Ausnahme derer der Unternehmerverbände – es war ein schlechter Scherz. Zudem schüchterte die Regierung die Streikenden ein und konstruierte juristische Vorwürfe. Einem Ölarbeiter wird gegenwärtig der Prozess gemacht, weil er während des Streiks eine Pipeline sabotiert haben soll. Er wurde bereits freigesprochen, aber sie wiederholen den Vorwurf immer wieder, wie sie auch die Fehlinformation streuen, die Notaufnahmen und die Chirurgie an den Krankenhäusern sei lahmgelegt worden. Wir spüren zudem längst die wirtschaftlichen Folgen der Reform: Die Arbeitslosigkeit ist auf einem Rekordhoch. Alles ist teurer geworden, weil sie die Umsatzsteuer in eine Mehrwertsteuer umgewandelt haben. Die Leute konsumieren weniger. In einem Land, in dem es zahlreiche Kleinst- und Kleinunternehmer gibt, hat das schwere Folgen. Die wirtschaftlichen Aussichten sind so schlecht, wie sie es seit den 1930er-Jahren nicht waren, als wir von der Weltwirtschaftskrise getroffen wurden.
Das klingt, als müsste die costa-ricanische Gesellschaft eigentlich sehr politisiert sein. Dennoch war die Wahlbeteiligung mit rund 60 Prozent so niedrig wie noch nie. Wieso?
Wenn wir uns die Wahlergebnisse anschauen, kann man schon sagen, dass die Wähler*innen ihren Unmut ausgedrückt haben. Die Regierungspartei PAC ist praktisch von der politischen Bühne verschwunden. Sie erzielte bei der Präsidentschaftswahl nicht einmal ein Prozent der Stimmen, hat keinen einzigen Sitz im Parlament und muss aufgrund des schlechten Wahlergebnisses ihre Zulassung als Partei erneut beantragen. Dieses Ergebnis hängt mit einer tiefen Enttäuschung zusammen. Mit der PAC, die die letzten beiden Regierungen stellte, verbanden viele die Hoffnung auf ein Ende des alten Zweiparteiensystems, in dem sich die PLN (Partei der nationalen Befreiung) und die PUSC (Partei der christlich-sozialen Einheit) an der Macht abwechselten. Sie war zudem mit einem politischen Profil links der Mitte angetreten. Am Ende erwies sie sich als neoliberaler, als es die beiden traditionellen Parteien je waren. Bereits 2018 galt sie vielen nur noch als das kleinere Übel. Man wählte PAC, um den rechten evangelikalen Politiker Fabricio Alvarado zu verhindern, der im ersten Wahlgang vorne lag. Während der zweiten Regierungszeit waren viele Wähler*innen derart enttäuscht, dass sich manche fragten, ob der Evangelikale wirklich schlimmer gewesen wäre.
Nikolas Grimm ist Redakteur der Zeitschrift iz3w. Als freier Journalist schreibt er zu Menschenrechten, Migration und sozialen Bewegungen in Lateinamerika.
Das Klima vor den Wahlen war von politischer Enttäuschung und Verzweiflung über die wirtschaftliche Lage geprägt. Für viele Menschen kam der wirtschaftliche Absturz einfach völlig abrupt. Plötzlich wurden Dinge in Frage gestellt, die sie über Generationen hinweg als selbstverständlich empfunden haben: Arbeitsrechte, soziale Sicherheit, die Möglichkeit die Schule abzuschließen oder einen Universitätsabschluss anzustreben. Für einen großen Teil der Gesellschaft sind diese Sicherheiten nun verloren gegangen und zu all dem kommen noch die Folgen der Pandemie. Nachdem man die Leute anfangs noch unterstützt hat und die schlimmsten wirtschaftlichen Folgen versuchte abzufedern, ließ man sie nach ein paar Monaten einfach allein. All das führt zu einem allgemeinen Klima der Verzweiflung und auch zu einer niedrigen Wahlbeteiligung.
Insgesamt 25 Kandidat*innen traten zu der Präsidentschaftswahl an. Eine Rekordziffer. Wie hat sich die politische Landschaft in dieser Krise verändert?
Die wirtschaftlichen Konflikte äußern sich auch in einer politischen Polarisierung. Wir konnten als Frente Amplio einen moderaten Stimmenzuwachs verzeichnen und haben nun sechs Abgeordnete. Zuvor war es einer. Das steht aber in keinem Verhältnis zu den Gewinnen der politischen Rechten. Die hat sich radikalisiert. Es gab schon immer ultraliberale Abspaltungen der PUSC, die aber unbedeutend blieben. Diese wirtschaftspolitisch libertären Parteien haben sich bei den aktuellen Wahlen vervielfältigt. Besorgniserregend ist, dass sie von dem rechten evangelikalen Politiker Fabricio Alvarado gelernt zu haben scheinen. Sie sind also liberal im Hinblick auf den Markt, während sie im Hinblick auf Menschenrechte und gerade auch auf die Rolle der Frau konservative Positionen einnehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist der Kandidat, der die zweitmeisten Stimmen verbuchen konnte und der gute Chancen hat, den zweiten Wahlgang zu gewinnen: Rodrigo Chaves. Er machte im Wahlkampf mit einer neoliberalen und zugleich frauenfeindlichen Rhetorik auf sich aufmerksam. Er scheint per Dekret regieren zu wollen und hat kein großes Interesse an parlamentarischen Abläufen. In der Art und Weise wie er sich als starken Mann präsentiert, erinnert er ein bisschen an Nayib Bukele aus El Salvador. Auch als im Wahlkampf bekannt wurde, dass ihn die Weltbank aufgrund von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz entlassen hatte, gab er sich weiterhin betont als Macho. In manchen Kreisen hat man ihn nicht trotz, sondern gerade wegen dieser Vorfälle gewählt. Im Grunde waren die sexuellen Übergriffe das Einzige, was ihn von den anderen Kandidaten abhob. So erzielte er gerade in den Regionen viele Stimmen, in denen 2018 der evangelikale Fabricio Alvarado erfolgreich war. Dazu kommen die Wähler*innen, die so enttäuscht von der PAC sind, dass sie nun bei der Rechten Zuflucht suchen.
Wie reagiert die feministische Bewegung darauf, dass ein Politiker, dem sexuelle Belästigung nachgewiesen wurde, Costa Ricas nächster Präsident werden könnte?
Es gibt natürlich klare Statements und große Sorge, dass wir eine Art Donald Trump als Präsidenten bekommen könnten, der Stimmung macht gegen die Fortschritte, die Frauen in der costa-ricanischen Gesellschaft erkämpft haben. Doch es ist schwierig, konkret politisch zu reagieren. Figueres, der andere Kandidat, ist auch ein Rechter und verkörpert in Costa Rica das Bild des korrupten Politikers schlechthin. Er war bereits Präsident in den 90er-Jahren und floh 2004 im Zuge eines Korruptionsskandals in die Schweiz, um nicht verurteilt zu werden. Auch gegen ihn gab es Vorwürfe, seine ehemalige Partnerin geschlagen zu haben, auch wenn das nun unter den Teppich gekehrt wird. Es tritt ein Korrupter gegen einen Chauvinisten an. Frauenfeinde sind sie letztlich beide.
Wie wird sich die Frente Amplio im zweiten Wahlgang verhalten?
Wir diskutieren das noch und werten die Möglichkeiten aus. Zur Wahl von Figueres aufzurufen, um Chaves zu verhindern, hätte einen hohen politischen Preis. Es geht dabei auch darum, wofür Figueres in der costa-ricanischen Politik steht. Er ist Sohn des Caudillos José Figueres Ferrer, der die Kommunisten verfolgen ließ . Viele Linke werden niemals für ihn stimmen können, weil er diese Tradition verkörpert. Wir hatten das Problem bereits bei den vergangenen Wahlen, als wir dazu aufgerufen haben, Fabricio Alvarado zu verhindern. Die Wähler*innen wissen, dass die PAC das kleinere Übel war, und dennoch handelte es sich gerade in wirtschaftspolitischer Hinsicht um die schlimmste Regierung, die wir je hatten. Figueres war zudem unser Hauptgegner im Wahlkampf. Seine Partei begann in den 90er-Jahren mit dem Ausverkauf des öffentlichen Sektors und als größte Fraktion im Parlament haben sie all die wirtschaftsliberalen Reformen der PAC mitgetragen. Die Mehrheit unserer Anhänger*innen wird wohl ungültig wählen oder gar nicht erst zur Wahl gehen.
Kommt es für die Frente Amplio in Frage, die Wähler*innen dazu aufzurufen, ungültig zu wählen?
Das ist tatsächlich eine Möglichkeit. Aber ich glaube eher, wir belassen es dabei, auf die politischen Gefahren beider Kandidaten hinzuweisen und die Leute sollen dann selbst entscheiden, für wen sie stimmen. Ich persönlich neige dazu, im zweiten Wahlgang nicht zur Wahl zu gehen, um die kommende Regierung nicht zu legitimieren. Dennoch ist es eine Frage der Abwägung. Ich bin durchaus der Auffassung, dass Chaves für die demokratischen Institutionen des Landes die größere Gefahr wäre. Wenn die Wahlbeteiligung weiter so niedrig bleibt, könnte man sich auf die Wahlkampfmaschinerie des PLN verlassen, die zudem die einzige Partei ist, die so etwas wie eine Stammwählerschaft hat. Aber politisch ist gerade viel in Bewegung und wir beobachten, dass sich die konservativsten Kräfte, die Rechten, die Libertären und auch die Anhänger Fabricio Alvarados hinter Chaves zu stellen scheinen. Wenn sich eine höhere Wahlbeteiligung abzeichnet, werde ich doch wählen gehen.
In Umfragen liegt Chaves derzeit vorne. Wie sähe eine mögliche Regierung unter ihm aus?
Mit nur neun Abgeordneten hätte seine Partei im Parlament nicht einmal dann die absolute Mehrheit, wenn er politische Bündnisse mit anderen rechten Parteien schließt. Entweder er regiert also autoritär per Dekret oder wir werden eine Regierung bekommen, in der politischer Stillstand herrscht. Was dann angesichts der bestehenden sozialen Spannungen passiert, ist schwierig abzusehen. Das kann uns Linken Raum geben, unsere Arbeit an der Basis auszubauen. Ich fürchte jedoch, dass die nächste soziale Explosion in Costa Rica eher nach rechts tendieren wird. Nach all den Kürzungen und Verlusten streben viele nach einer idealisierten Vergangenheit, die Vorstellung etwas Besonderes zu sein, die Weißen Mittelamerikas, ist ebenso tief verankert wie Vorbehalte gegen Migrant*innen. Seit 2018 empfangen wir jährlich zehntausende Flüchtlinge aus Nicaragua. Das ist unser Nachbarland, und dennoch denken hier manche, sie seien etwas Besseres.
Bei vergangenen Wahlen war die Frente Amplio gerade in den ärmeren ländlich geprägten Küstenregionen wie Limón, Guanacaste oder Puntarenas stark. Nun stellt sich die Lage quasi umgekehrt dar. Ihre sechs Abgeordneten stammen aus urbaneren und wohlhabenderen Gegenden im Landesinneren. Wie wird dies in der Partei aufgenommen?
Die ländlichen Regionen, die vom Staat komplett im Stich gelassen wurden, sind wichtig für uns. Auch die Kommunistische Partei hatte früher traditionell ihre Basis in den Küstenregionen. In diesen Provinzen konnte Fabricio Alvarado 2018 die meisten Stimmen holen, 2022 verhält es sich so, dass die Wahlbeteiligung dort derart niedrig ist, dass es für ihn nicht gereicht hat. Wir haben leider nach dem Wahldebakel von 2018 auf dem Land an Strukturen eingebüßt, es gab Streitigkeiten von denen wir uns erst langsam erholen. Dass gerade in den ärmsten Provinzen die Rechte gewinnt, bedeutet für uns ein enormes Stück Arbeit, das vor uns liegt. Unser Programm schien vor allem bei der urbanen, progressiven Mittelschicht zu punkten. Aber das ist eine Schicht, die am Schwinden ist. Darauf können wir uns nicht ausruhen, auch wenn wir ein besseres Wahlergebnis erzielt haben als 2018.
Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Oppositionspartei in den nächsten vier Jahren? Werden Sie eher auf parlamentarische Bündnisse setzen oder den Kontakt zu sozialen Bewegungen suchen?
Bündnisse mit anderen Parteien im Parlament werden schwer umsetzbar sein, es handelt sich ausschließlich um rechte Parteien. Aber es gibt einzelne Politiker*innen, mit denen einen punktuelle Zusammenarbeit möglich sein kann. Etwa bei der PLN oder der PUSC. Der Fraktionszwang ist nicht sehr ausgeprägt im costa-ricanischen System. Wir sehen uns eher an Seite der sozialen Bewegungen. Die feministische Bewegung ist am Erstarken – gerade deswegen gibt es auch eine so starke Gegenbewegung. Die Gewerkschaften sind nach dem verlorenen Streik 2018 geschwächt und haben gegenwärtig mit einer korrupten Führung zu kämpfen. Dennoch sind das unsere potenziellen Bündnispartner*innen, die sozialen Bewegungen auf dem Land sind leider schlechter organisiert. Was uns auch Hoffnung gibt, ist, dass unsere Fraktion ausgesprochen jung ist, ich bin die Älteste und meine Kolleg*innen sind Anfang 30 und jünger. Obendrein ist unser typisches Wählerprofil jung und weiblich. Wir hoffen auf die Kreativität der Jugend, ihr Engagement und auch ihre Fähigkeit zur politischen Mobilisierung.