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Interview mit dem venezolanischen Aktivisten, Autor und ehemaligen Minister Reinaldo Iturriza

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Reinaldo Iturriza
Reinaldo Iturriza Foto: Tobias Lambert

Seit Jahren leidet Venezuela unter einer tiefgreifenden wirtschaftlichen und politischen Krise. Jenseits des Machtkampfes zwischen Regierung und rechter Opposition gibt es auch handfeste Spannungen zwischen der Regierung Maduro und einem Chavismus von unten, der einst ein enges Verhältnis zu Ex-Präsident Hugo Chávez pflegte. Tobias Lambert von Lateinamerika Nachrichten sprach mit Reinaldo Iturriza über Krise, Basischavismus und Kritikfähigkeit in Venezuela.
 

Tobias Lambert: Kommunale Räte, in denen Nachbar*innen basisdemokratisch über die Verwendung von Geldern entscheiden, galten einst als Kernstück des linken Projektes unter dem 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez. In den vergangenen Jahren wurden sie häufig von der Regierung vereinnahmt. Widerspricht dies nicht komplett der Grundidee?

Reinaldo Iturriza: Die Idee der Kommunalen Räte war, dass die Menschen Zugang zu Ressourcen brauchen, um wirkliche Macht ausüben zu können. 2005 kontrollierte der regierende Chavismus die große Mehrheit der Ämter, inklusive des Parlaments. Aber im Territorium, bei den Menschen vor Ort, kann kein gewählter Amtsträger, schon gar nicht der Präsident, permanent präsent sein. Dies kann nur die organisierte Bevölkerung als Selbstregierung von unten. Die Zentralregierung muss solche Prozesse eigentlich unterstützten und darf sie nicht vereinnahmen. Das war der strategische, theoretische Ansatz von Chávez. Es ging darum, eine andere Gesellschaft zu schaffen. Die Wirklichkeit sieht freilich anders aus.

Und zwar wie?

Von Anfang an gab es viele Konflikte mit der Regierungspartei PSUV (Vereinte Sozialistischen Partei Venezuelas) und immer Versuche der Vereinnahmung. Chávez wusste, dass seine politische Basis Parteien und Bürokratie gegenüber skeptisch war. Aber ab 2007 begann er parallel zu den Kommunalen Räten damit, die PSUV aufzubauen. Diese beiden Konzeptionen des Chavismus entwickelten sich also mehr oder weniger zeitgleich. Mit Blick auf die Partei war Chávez aber durchaus auch kritisch und sich über deren Grenzen bewusst. In seiner letzten programmatischen Rede 2012 hat er sich klar für die Comuna (Zusammenschluss mehrerer Räte, Anm. d. Red.) als Organisationsprinzip ausgesprochen.

Reinaldo Iturriza ist Basisaktivist und Autor. Zu Beginn von Maduros Amtszeit 2013 war er insgesamt drei Jahre lang Minister für Comunas und Kultur. Sein bekanntestes Buch ist El Chavismo Salvaje (Der ungezügelte Chavismus), eine Sammlung von Texten über den Chavismus von unten. Zuletzt erschien Con gente como esta es posible comenzar de nuevo (Mit solchen Leuten ist es möglich, neu zu beginnen).

Heißt das, von den beiden parallel verlaufenden Organisationsprozessen hat sich letztlich die Partei gegenüber basisdemokratischen Ansätzen durchgesetzt?

Die Parteiführung, und bis zu einem gewissen Punkt auch Chávez selbst, versuchten, die Bewegung einzufangen. Bürgermeisterinnen und Bürgermeister sahen die Kommunalen Räte als Konkurrenz, die ihre eigenen Ämter bedroht. Die eigentliche Bedeutung des Ansatzes hat der regierende Chavismus nie verstanden. Es gab einzelne Kommunale Räte und Comunas, die viel Unterstützung erhielten und andere, in denen die Institutionen permanent ausbremsten. Schon während meiner Zeit als Minister gab es Stimmen, die sagten, in den Räten konzentriere sich die Opposition. Als könnten die Regierungsgegner in einem Territorium, in dem der Chavismus insgesamt eine deutliche Mehrheit hat, den Kommunalen Rat kontrollieren! Mit diesem Argument unterband die Regierung während der schweren Wirtschaftskrise ab 2016/2017 dann die Neuwahl der Sprecher*innen und Sprecher der Kommunalen Räte, um die Kontrolle über diese Räume nicht zu verlieren. Nun ändert sich das, seit Ende Juni finden wieder Wahlen statt.

Was steckt dahinter?

Es ist nicht klar, wie es zu dem Richtungswechsel in der Frage kam. Aber innerhalb der Institutionen nehmen einzelne Personen das Thema noch immer ernst. Die Wahlen der Sprecherinnen und Sprecher auszusetzen war nicht nur ungeschickt, sondern stellte das Eingeständnis dar, dass die Regierung nicht in der Lage ist, über demokratische Abstimmungen das Territorien zu kontrollieren. Einige Comunas haben sich widersetzt, zum Beispiel El Maizal im Bundesstaat Lara. Doch derartige Erfahrungen haben jeweils mit der spezifischen politischen Situation vor Ort zu tun, die von der Partei nicht gutgeheißen wird. Das sind aber genau die Erfahrungen, die auch außerhalb Venezuelas wahrgenommen werden. Dort, wo die Selbstregierung schwächer ausgeprägt war, haben sie von oben ihre Strukturen übergestülpt. Häufig waren diese aber nur deshalb so schwach, weil der Staat in den Jahren zuvor wenig Unterstützung geleistet hat.

Schon unter Chávez hieß es aufgrund der ständigen Bedrohung durch die Opposition oder die US-Regierung häufig, fundierte Kritik spiele der Rechten in die Hände. Kann sich ein revolutionärer Prozess ohne interne Kritik weiterentwickeln?

Bei dem Thema gab es immer Spannungen. Einerseits hatten wir die rechte Opposition, die  den Chavismus als brutal, irrational und gewalttätig darstellte. Aber auch die Regierung hielt den Chavismus von unten als nicht gut genug vorbereitet, um sich selbst zu regieren. Einigen Regierungsmitgliedern galt die chavistische Basis eher als Mobilisierungsmasse für Kundgebungen. Sie sahen sie als Kunden, als Nutznießer des Staates. Dieser Ansicht nach fungierst du also nicht als Bürger, der Rechte hat, sondern als Hilfeempfänger. Wenn du Kritik übst, Dinge anzweifelst oder dich auf der Straße für deine Rechte einsetzt, bist du also undankbar und trägst zur Spaltung bei. Und Chávez selbst spielte eine ambivalente Rolle. Er forderte stets Kritik ein, nahm sie dann aber manchmal nicht gut auf.