News | Osteuropa - Rosa-Luxemburg-Stiftung Solidarität in Zeiten der Krise

Heinz Bierbaum gratuliert im Namen des Vorstandes der Rosa-Luxemburg-Stiftung zum 20jährigen Bestehen des RLS-Büros in Warschau.

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Heinz Bierbaum,

Heinz Bierbaum bei der Jubiläumsfeier des RLS-Büros in Warschau, 25.5.2023
Heinz Bierbaum bei der Jubiläumsfeier des RLS-Büros in Warschau, 25.5.2023

Wir leben in turbulenten Zeiten. Deshalb ist es nur konsequent, dass die Veranstaltung unter dem Motto «Solidarität in Zeiten der Krise» steht. Und dass wir in Zeiten der Krise leben, ist offensichtlich. Der deutsche Sozialwissenschaftler Klaus Dörre spricht von einer ökonomisch-ökologischen Zangenkrise und betont damit insbesondere die ökologischen Herausforderungen, vor denen wir stehen. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze spricht von einer Polykrise und meint damit die Verschränkung verschiedenster Entwicklungen, die sich in Krisen zuspitzen – so die Finanzkrise, die Pandemie, den Klimawandel, den Krieg in der Ukraine. Kein Zweifel, wir haben es mit einer multiplen Krise zu tun und zugleich mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Umbrüchen, wobei der Klimawandel eine zentrale Rolle spielt. Diese Umbrüche und die damit verbundenen krisenhaften Entwicklungen wurden erst durch die Pandemie, dann durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine verschärft. Die multiple Krise trifft nicht alle gleich. Im Gegenteil. Die Ungleichheit hat dramatisch zugenommen. Dies zeigen die Zahlen von Oxfam. Danach besitzt das reichste Prozent fast die Hälfte des gesamten Vermögens. Die Schere zwischen arm und reich öffnet sich immer weiter.

Die Krise drückt sich gegenwärtig in Europa besonders in den gestiegenen Lebenshaltungskosten aus. Die Inflation beträgt nahezu zehn Prozent. In Polen sind es sogar 18 Prozent. Besonders die Preise für Energie und Lebensmittel sind stark angestiegen. Dies ist sicherlich eine Folge des Krieges in der Ukraine. Aber nicht nur. Ursache für die steigenden Energiepriese ist auch die Liberalisierung der Energiepolitik, die wesentlich marktgesteuert ist. Dies führt zu einer Situation, die die Vorsitzende des EGB Esther Lynch einmal so charakterisiert hat: Familien stehen vor der Wahl, ob sie ein warmes Zuhause haben wollen, oder für die Kinder eine warme Mahlzeit kochen können. Auf der anderen Seite sind die Gewinne gerade der Energiekonzerne enorm angestiegen. Diese «Windfall Profits» müssen abgeschöpft werden. Die Forderung nach einer Übergewinnsteuer ist nur zu berechtigt.

Gegen die steigenden Preise und der damit verbundenen Verschlechterung der Lebensbedingungen hat sich ein breiter Widerstand gebildet. Ich verweise insbesondere auf die Kampagne «Enough is Enough» in Großbritannien, die aber auch in anderen europäischen Länder aufgegriffen wurde. Überall regt sich Widerstand, so etwa besonders in Frankreich, wo Macron‘ s Rentenreform für Empörung und umfangreiche Streikaktivitäten gesorgt hat. Vor dem Hintergrund der Inflation und der Reallohnverluste haben gewerkschaftliche Kämpfe Aufwind erfahren. Dies zeigte sich in der diesjährigen Tarifrunde in Deutschland, die von einer lange nicht gekannten Mobilisierung geprägt ist. Auch wenn die Reallohnverluste nicht voll kompensiert wurden, so haben die gewerkschaftlichen Kämpfe doch zu beachtlichen Abschlüssen geführt, die die Folgen der Inflation deutlich abmildern.

Angesichts einer Entwicklung, bei der die Gewinne von Unternehmen und Konzerne stark zunehmen, gleichzeitig aber die Lohnabhängigen immer stärker unter den gestiegenen Lebenshaltungskosten leiden, und angesichts der stark ungleichen Vermögensverteilung ist die Forderung nach der Einführung einer Vermögenssteuer und einer Umverteilung von oben nach unten von höchster Aktualität. Eine solche Umverteilung wäre in einer Situation, in der die Lohnabhängigen und besonders diejenigen mit geringem Einkommen wie insbesondere die prekär Beschäftigten unter den steigenden Lebenshaltungskosten leiden, ein starkes Zeichen von Solidarität.

Es sind jedoch nicht nur die steigenden Lebenshaltungskosten, die bei den Lohnabhängigen zu vermehrten Belastungen führen. Infolge der ökologischen Herausforderungen, wie sie insbesondere im Klimawandel zum Ausdruck kommen, sind wir zu einer weitreichenden Veränderung unserer Produktions-und Lebensweise gezwungen. Eine auf fossilen Energien beruhende Produktion hat keine Zukunft mehr. Notwendig sind umfassende Transformationsprozesse in der Wirtschaft und vor allem in der Industrie. Dies gilt für ganz Europa, besonders jedoch für Deutschland und Polen. Und in der Tat sind solche Transformationsprozesse im Gange, laufen aber in den widersprüchlichen Verhältnissen einer kapitalistischen Entwicklung ab, die immer wieder zu Krisen führt und mit alter und neuer sozialer Ungleichheit und Polarisierung einhergeht. Eine solidarische Politik erfordert daher eine Verbindung von ökologischen und sozialen Erfordernissen. So hat der Internationale Gewerkschaftsbund schon früh die Forderung nach einem gerechten Übergang («Just Transition») erhoben. «Just Transition» bedeutet IndustriAll zufolge: «Transformierung der Wirtschaft in einer fairen und inklusiven Art und Weise, um den Erhalt und die Schaffung qualitativer und guter Arbeitsplätze zu garantieren.»

Die Linke sowohl auf deutscher als auch auf europäischer Ebene fordert eine sozial-ökologische Transformation. Diese kann nicht allein dem Markt überlassen werden, sondern muss öffentlich organisiert werden. Dies bedingt eine aktive Industriepolitik mit öffentlichen Investitionen. Zugleich gilt es aber auch, die Beschäftigten selbst in diesen Prozess miteinzubeziehen, also die sozial-ökologische Transformation mit Wirtschaftsdemokratie zu verbinden.

Es geht um einen Systemwechsel, nicht nur um einen grünen Kapitalismus.

Die Krise und die die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sollten Anlass für einen grundlegenden Politikwechsel sein. An die Stelle neoliberaler Austeritätspolitik, deren Grenzen sich ja bereits in der Zeit der Pandemie deutlich gezeigt haben, sollte eine Politik im Interesse aller treten, gerichtet auf das Gemeinwohl. Krisen beinhalten nicht nur Risiken, sondern immer auch Chancen. Literarisch ist dies sehr schön von Hölderin ausgedrückt worden: «Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch». Wir sollten also nicht nur die zweifellos großen Risiken und Probleme betrachten, sondern auch die Chancen für eine andere Politik mit dem Ziel einer sozial und ökologisch gerechteren gesellschaftlichen Entwicklung ergreifen.

Auf der anderen Seite kommt es aber gerade in Zeiten der Krise vermehrt zu Nationalismus und Rassismus, wie wir am Aufstieg der extremen Rechten in ganz Europa sehen. Autoritäre Tendenzen nehmen zu. Dies ist das Gegenteil von Solidarität, derer es gerade in Zeiten der Krise bedarf. Wir treten daher für den Erhalt und Ausbau der demokratischen Rechte ein, wenden uns gegen Ausgrenzung, gegen Rassismus. Für uns sind gleiche Rechte für alle zentral. Wir sind gegen jede Art von Diskriminierung, egal ob es sich um die Geschlechterfrage oder nationaler, religiöser oder sexueller Orientierung handelt.

Eine besondere Herausforderung der Solidarität stellt der Krieg in der Ukraine dar. Es steht außer Zweifel, dass es sich um einen völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg handelt. Das Leid ist unermesslich. Hier muss geholfen werden. Den Preis zahlen insbesondere die «kleinen Leute» – mit dem Tod auf dem Schlachtfeld und mit den sozialen Konsequenzen. Dieser Krieg muss beendet werden. Wie dies allerdings geschehen soll, da gehen die Meinungen auseinander. Gerade auch in der Linken gibt es unterschiedliche Positionen. Was wir brauchen, das ist ein Dialog unter den linken und progressiven Kräften, wie wir zu einem Frieden kommen können. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung versteht sich als eine Einrichtung, die solche Dialoge fördert und dafür Räume bereitstellt. Das hat gerade auch unser Büro hier in Warschau immer wieder bewiesen. Die Rosa-Luxemburg-Stiftung ist einer solidarischen Politik verpflichtet, besonders in Zeiten der Krise.

Im Namen des Vorstandes möchte ich den Kolleginnen und Kollegen des Büros für die geleistete Arbeit danken. Ich wünsche weiterhin viel Schaffenskraft und Erfolg. Ich bin sicher, dass das Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung hier in Warschau auch im Hinblick auf die großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, zentraler Bezugspunkt in der politischen Debatte und Bildungsarbeit sein wird.

Warschau, 25. Mai 2023