Die Bibliothek der Rosa-Luxemburg-Stiftung hat einen Teil der Büchersammlung des 2013 verstorbenen taz-Redakteurs Christian Semler übernommen. Semler engagierte sich im SDS und in der westdeutschen Studentenbewegung der 1960er-Jahre. 1970 war er Mitgründer der KPD/AO. Zu den Büchern aus seiner Sammlung gehören auch einige Raubdrucke, also nicht genehmigte Nachdrucke damals vergriffener und nicht selten fast schon vergessener Literatur. So zum Beispiel ein auf das Jahr 1969 datierter Druck von Karl Korschs Schrift «Die materialistische Geschichtsauffassung» [Signatur: Y 105-0152].
Die 100 rosafarbenen Seiten, auf die Korschs Text gedruckt ist, sind in einen grünen Pappeinband gebunden. Auf der Außenseite des Einbands ist ein Comic zu sehen. Links oben ist eine Sprechblase, die in schwungvoller Schrift Autor und Titel nennt. Sprecherin ist ein junges Mädchen, das im Profil in der unteren linken Bildhälfte platziert ist. Sie trägt einen spitzen Hut, auf dessen Vorderseite ein Stern abgebildet ist. In ihrer rechten Hand hält sie einen Revolver, den sie auf einen lächelnden Mann mit Fliege und Zigarre richtet. Der Mann beugt sich dem Mädchen entgegen, er schaut sie direkt an. Er wirkt in Anbetracht der bedrohlich anmutenden Situation überraschend entspannt. Die Figuren sind als Konturen mit einem schwarzen Stift gezeichnet und auf den grünen Einband gedruckt. Der Stil ist typisch für Comiczeichnungen der späten 1960er-Jahre. Die äußere Gestaltung mutet frech und widerspenstig an. Der Erscheinungsort des Raubdrucks ist nicht angegeben. Als Verlag wird am unteren Rand des Einbandes «Verlag der Karl Korsch'schen Erbengem. e.V. vorm. ‹Der Linkskommunist›» angegeben. Das ist ein Fantasieverlag. Sowohl das Fehlen eines Impressums als auch der erfundene ironisch-humorvoll Verlagsname sind typisch für Raubdrucke dieser Zeit. Eine Titelei gibt es nicht. Auf der ersten Seite findet sich die Wiedergabe eines «Glücksgutscheins der Altmann GmbH Hamburg für Partnerauswahl». Bei der Altmann GmbH handelt es sich um eine der ersten Singlebörsen, bei der ein Computer berechnete, in wen man sich verlieben solle. Auf der Innenseite des Einbandes befindet sich ein Namenseintrag von Semlers Freund und politischem Mitstreiter Wolfgang Schwiedrzik. Ob die Unterstreichungen im Text von Schwiedrzik, Semler oder einer weiteren Person stammen, ist nicht eindeutig zu klären.
«Die materialistische Geschichtsauffassung» Korschs wird in dem Raubdruck auf das Jahr 1928 datiert. Das ist nicht korrekt – tatsächlich erschien dieser Text erstmals 1929 im 14. Band des von Carl Grünberg (1861-1940) gegründeten «Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung» in Leipzig (Digitalisiert bei der FES) Raubdrucke bzw. «proletarische Reprints» waren häufig eine Grundlage für Diskussionen innerhalb der Neuen Linken. Im Rahmen der Raubdruckbewegung sind marxistische, sozialistische, sozialphilosophische, psychoanalytische, soziologische und pädagogische Theorien für die kritische Diskussion im Umfeld westdeutscher Universitäten wiedergewonnen worden. Solche Raubdrucke wurden häufig von Werken angefertigt, die im Handel nicht erhältlich waren und die in Vergessenheit zu geraten drohten. Es handelte sich um einen Versuch, an sozialistische Traditionen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts anzuknüpfen und diese theoretisch und praktisch mit den Bedingungen, Möglichkeiten und Perspektiven der zeitgenössischen Gegenwart zu verbinden. Die etablierten Verlage mussten auf solche «Piraten-Drucke» reagieren. Einerseits wurde gefordert, die weitere Herstellung von geraubten Nachdrucken zu unterbinden, beispielweise mit Unterlassungsaufforderungen. Andererseits machten Raubdrucke auch spezifische Lektürewünsche einer gesellschaftskritischen Leserschaft sichtbar. Die westdeutsche Raubdruckbewegung der späten 1960er Jahre wirkte sich also auch dahingehend auf etablierte Verlage aus, dass diese ab den 1970er Jahren Werke marxistischer Theoretiker in preiswerten Ausgaben und in hoher Auflage auf den Markt brachten. Auch die Schrift von Korsch erschien 1971 als lizensierte Neuauflage bei der Europäischen Verlagsanstalt (EVA), also zwei Jahre nach dem Erscheinen des hier vorgestellten Raubdrucks. Korsch reagiert in seinem Werk «Die materialistische Geschichtsauffassung» auf Karl Kautsky und dessen 1927 erschienenes umfangreiches Werk mit demselben Titel. Korsch bezeichnete seine Kritik salopp als «Anti-Kautsky». Nach der Kritik von Korsch gebe Kautsky die klassenspezifischen Ziele der Arbeiterbewegung auf und vertrete bürgerliche Forderungen.
Bibliotheken lehnten es ab, solche illegalen Druckerzeugnisse in ihre Bestände aufzunehmen. Sie erkannten diese Drucke nicht als mentalitätsgeschichtliche und ideengeschichtliche Zeitzeugnisse der Neuen Linken an. Dabei sagt allein schon die Auswahl an Texten, die von Untergrundverlagen nachgedruckt wurden, viel aus über das Theoriegebäude, auf das sich Teile der Neuen Linken in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren beriefen. Zusätzlich offenbart die äußere Gestaltung der Raubdrucke auch eine spezifische Ästhetik der Neuen Linken. Diese Ästhetik vermittelt sich bei diesem Raubdruck nicht ausschließlich durch die Comiczeichnung auf dem Einband, sondern auch durch den ohne Bezug zum Werk Korschs auf dem ersten Blatt abgedruckten Glücksgutschein der Altmann GmbH. Gerade dieser Quellenwert von Raubdrucken ist einer der Gründe dafür, dass sich die Bibliothek der Rosa-Luxemburg-Stiftung freut, diesen Raubdruck von Korschs Werk und weitere Raubdrucke aus Christian Semlers Nachlass einer Öffentlichkeit präsentieren zu können.