Es war ein Paukenschlag. Am 1. Januar 1994 erregte die Zapatistische Armee der Nationalen Befreiung (Ejército Zapatitsta de Liberación Nacional, EZLN) weltweit Aufsehen mit ihrem Aufstand und der friedlichen Besetzung der mexikanischen Kleinstadt San Cristóbal. In der Folgezeit stellte sie viele alte Denkmuster infrage. Die weitgehend indigen und gemeindebasiert geprägte Guerilla im Bundesstaat Chiapas suchte vom ersten Tag an den intensiven Dialog mit der Zivilgesellschaft. Die regelmäßigen Mitteilungen der Zapatist*innen, die comunicados, erlangten schnell Kultstatus. Die Sympathie für die EZLN im In- und Ausland war enorm. Dies zwang die mexikanische Regierung dazu, die direkte militärische Niederschlagung des Aufstands abzubrechen und Verhandlungen mit der Guerilla aufzunehmen. Heute ist es zwar stiller um die Zapatist*innen und ihre autonom organisierten Gemeinden geworden. Doch ihr Einfluss ist bleibend, meint die mexikanische Menschenrechtsaktivistin Dolores González Saravia im Gespräch.
Dolores González Saravia arbeitete jahrzehntelang bei der mexikanischen Menschenrechtsorganisation Serapaz. Sie ist Dozentin und befasst sich heute als Koordinatorin der Organisation Eutopia y Estrategia mit Konfliktlösungen in einem gewalttätigen Umfeld. Das Gespräch führte Gerold Schmidt, ab März 2024 Leiter des RLS-Regionalbüros in Mexiko.
«Die zapatistische Bewegung betrat die öffentliche Bühne zu einem Zeitpunkt, als die Welt sich stark veränderte», erinnert Dolores González. «In Mexiko trat damals der Freihandelsvertag NAFTA in Kraft, den das Land mit Kanada und den USA abgeschlossen hatte. Die EZLN gehörte zu den Bewegungen, die als erste die kapitalistische Globalisierungslogik und den Freihandelsfetischismus ansprachen und kritisierten. Viele andere Bewegungen in Lateinamerika hatten das nicht auf ihrer Agenda.» Und, so González: «Als überwiegend indigen geprägte Organisation griffen die Zapatist*innen außerdem das Thema der Identität auf. Das stand bei vielen der damaligen traditionellen gewerkschaftlichen, sozialen und politischen Bewegungen nicht auf der Tagesordnung.»
Ein antikapitalistischer Referenzpunkt weltweit
Die EZLN brachte ein neues politisch-strategisches Denken in die nationale und internationale Debatte ein. Sie bereitete den Boden für globale Bewegungen «von unten», die sich dem kapitalistischen System und der herrschenden Weltwirtschaftsordnung widersetzten. Das Weltsozialforum mit seinem Motto «Eine andere Welt ist möglich» hatte in den Zapatist*innen einen wichtigen Referenzpunkt. Die EZLN setzte ihre Vorstellung eines selbstbestimmten Lebens auf lokaler Ebene um. Die Zapatist*innen organisierten abseits von staatlichen Interventionen eigene Schulen mit auf ihren Lebensalltag zugeschnittenen Lehr- und Lerninhalten, bauten Gesundheitszentren auf und schafften mit ihren «Räten der guten Regierung» autonome Entscheidungsinstanzen. «Die EZLN wollte nicht an die Macht, sondern eine alternative Macht, neue Formen des Zusammenlebens», sagt González. «Wenn wir aktuell von alternativen Projekten, neuen universellen Paradigmen sprechen, dann müssen wir die autonomen zapatistischen Erfahrungen berücksichtigen.» Eines der am meisten diskutierten Konzepte der Zapatist*innen betraf das «gehorchende Regieren»: Gewählte Autoritäten handeln nach dem Willen der Basis und treffen keine Entscheidung über deren Köpfe hinweg.
Die Kommunikation der Zapatist*innen faszinierte viele Menschen. «Sie war ein wirkungsmächtiges Werkzeug», ordnet González ein. «Mit dem weißen Subcomandante Marcos verfügte die EZLN über einen Übersetzer zwischen den Kulturen. Er drückte sich in einer Sprache aus, die für die Mehrheit der Gesellschaft verständlich war.» Der Diskurs verband sich mit einer Reihe von sehr interessanten organisatorischen Prozessen, der Betonung des Kollektivs und der Gemeinschaft. «Es gab diese Mischung aus organisierter kleinbäuerlicher Bewegung, kirchlichen Basisbewegungen und einer eher traditionellen Guerillabewegung. Sie führte zu einem neuartigen Diskurs», sagt die Menschenrechtsaktivistin.
Dass dieser Diskurs heute nicht mehr dasselbe Echo hervorruft wie früher, hat für González Gründe. Das politische Projekt der EZLN sei nicht auf Konjunkturen ausgerichtet. Die Zapatist*innen wehrten sich dagegen, einer solchen Logik zu folgen. «Der Dialog der EZLN ist auf die Zukunft ausgerichtet, er reagiert nicht unbedingt auf die Ereignisse, die das aktuelle öffentliche Leben bestimmen. Zudem haben sich die Zapatist*innen entschieden, über unterschiedliche Personen, Gemeinden, Kollektive und indigene Instanzen mit der Außenwelt zu kommunizieren. Das macht die Brückenfunktion zu den Medien, anderen sozialen Akteuren, dem großen Publikum viel schwieriger.»
Zivilgesellschaftliche Mobilisierung als Herausforderung
In den zurückliegenden 30 Jahren haben die Zapatist*innen immer wieder versucht, die Zivilgesellschaft auf nationaler und internationaler Ebene breiter zu mobilisieren. Es gab unter anderem die «intergalaktischen Treffen», dann die «Andere Kampagne», zuletzt 2021/2022 die EZLN-Delegationen in Europa. Doch die Mobilisierung war immer nur vorübergehend. Zu der Frage, ob die Initiativen und Bewegungen in den Zivilgesellschaften den Zapatist*innen nicht gerecht geworden sind, meint González: «Es ist nicht so einfach, sich ohne eine klare gemeinsame Agenda, ohne Führung und ohne eigene Struktur zu einem dauerhaften umfassenden Bündnis zusammenzuschließen. Nehmen wir den Feminismus. Die alten feministischen Netzwerke sind stark organisiert, die neuen feministischen Akteur*innen viel weniger. Es gibt sehr viel nicht organisierten zivilgesellschaftlichen Zuspruch für die Zapatist*innen, aber keine organisierte Struktur, die diesen bündeln könnte.» Auf Mexiko bezogen kritisiert die Menschenrechtlerin: «Die sozialen Bewegungen in Mexiko verstricken sich seit Jahren in ihren strategischen Differenzen. Das ist ein großes Problem.»
Trotz «linker Agenda»: Kein Vertrauen in die staatlichen Instanzen
Die seit Ende 2018 amtierende mexikanische Bundesregierung unter Präsident Andrés Manuel López Obrador definiert sich selbst zwar als links. Dennoch gibt es zwischen den Zapatist*innen und der Regierung praktisch keine Beziehungen. Ausnahme bildete eine - durch Widerstände im Regierungslager selbst wie in der konservativen Justiz – letztlich fehlgeschlagene Initiative: Das Vorhaben der staatlichen Nationalbehörde für Indigene Völker (INPI), den indigenen Völkern den Status als Rechtssubjekte in der mexikanischen Verfassung zu garantieren. Dies griff einen wesentlichen Bestandteil der Mitte der 1990er Jahre zwischen Regierung und Zapatist*innen vereinbarten aber nie wirklich umgesetzten Abkommen von San Andrés wieder auf. «Die Formen der sozialen und politischen Organisation der indigenen Völker sollten als öffentliche Rechtsinstanzen anerkannt werden. Der Vorschlag war, die Autonomien aller indigenen Völker auf gemeindlicher, kommunaler und regionaler Ebene in der Verfassung festzuschreiben», erklärt González. «Dies wäre trotz aller Kritik an der Art des offiziellen Befragungsprozesses in den Gemeinden ein großer Fortschritt gewesen.» Aber das Scheitern der Initiative bekräftigte einmal mehr das Misstrauen der EZLN in die staatlichen Instanzen.
Die Bedrohung durch das organisierte Verbrechen
In jüngster Zeit hat sich die Präsenz paramilitärischer Gruppen und der Drogenkartelle in Chiapas verstärkt. Deren Schutzgeldforderungen, Rekrutierungsversuche in den Gemeinden und die Konflikte zwischen den kriminellen Organisationen um Einflussgebiete und Transportrouten bedeuten Gewalt und Druck für viele Gemeinden. Die Zapatist*innen haben darauf in den vergangenen Wochen mit mehreren Änderungen ihrer Strukturen reagiert: Die Caracoles, die kollektiv organisierten regionalen zapatistischen Zentren in Chiapas schließen dauerhaft, um die Sicherheit der Gemeinden gegen Angriffe von außen zu garantieren. Für Dolores González haben die Caracoles dennoch ihre Bedeutung nicht verloren. «Ich bezeichne sie als Orte der Utopie. In ihnen und in ihren Gemeinden haben die Zapatist*innen gleichberechtigtere Beziehungen zwischen den Menschen aufgebaut, die Natur respektiert. Das ist die Welt, die sie sich vorstellen und die auch viele von uns anstreben. Dieser Beitrag bleibt wertvoll.» González versteht die Entscheidung der Zapatist*innen, derzeit weniger sichtbar zu sein. Die EZLN schütze ihren Prozess angesichts des enormen äußeren Drucks und vermeide Auseinandersetzungen mit anderen Gemeinden und Organisationen, die am Ende hohe menschliche und soziale Kosten bedeuten könnten. «Oft zog sich die EZLN aus einem Ort zurück und trat an einem anderen stärker auf.» González weist darauf hin, dass die Gruppen des organisierten Verbrechens in Chiapas überhaupt nur so agieren könnten, «weil sie von staatlichen Akteuren gedeckt werden.» Die Bundesregierung spielt die zunehmende Gewalt in Chiapas herunter. Polizei und Militär konzentrieren sich darauf, die Migration an der Grenze von Chiapas mit Guatemala einzudämmen.
Neue Stimmen für eine neue Generation
30 Jahre nach ihrem Aufstand steht die EZLN auch vor der Herausforderung eines Generationenwechsels. Wie agiert die neue Generation der Zapatistas? Wird es neue Führungspersönlichkeiten geben? Oder braucht die Bewegung «öffentliche» Figuren wie Subcomandante Marcos, den indigenen Comandante Moises oder die verstorbene Comandanta Ramona nicht mehr?
González meint: «Die Zapatist*innen nutzten die pasamontañas, die Gesichtsmasken, um sich als Kollektiv ohne spezifisches Gesicht zu präsentieren, auch wenn sie durchaus emblematische Gesichter hatten. Zur heutigen EZLN gehört auch, dass die neue Generation nach außen nicht mehr über Persönlichkeiten auftritt. Der zapatistische Bildungsprozess hat eine komplett neue Generation hervorgebracht. Sie hat einen ganz anderen Hintergrund als die Älteren. Ihre Perspektive kann daher nur anders sein. Ihre Stimme hören wir derzeit noch nicht. Aber wir sollten bereit sein, die Ohren offen zu halten.»