News | Partizipation / Bürgerrechte - Migration / Flucht - Einbürgerung Zwischen Nützlichkeit und Realpolitik

Wo bewegen sich parteipolitische Debatten zu Einwanderung und Einbürgerung? Gespräch mit Susanne Hennig-Wellsow und Katina Schubert

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Florian Weis und Rebecca Gotthilf sprachen Ende 2023 mit Susanne Hennig-Wellsow und Katina Schubert über die angestoßenen Diskussionen innerhalb der Linken zum Einwanderungsgesetz. Der Versuch eine Gesetzesvorlage von links zu erarbeiten, war 2018 an inhaltlichen Differenzen gescheitert.

Das Gespräch ist in zwei Teile gegliedert. Im ersten Teil gibt uns Susanne Hennig-Wellsow einen Überblick über die Diskussion, im zweiten Teil geht Katina Schubert genauer auf die Umsetzung, Hürden, Ziele und Motive sowie verschiedene Aspekte des schmalen Grads zwischen Realpolitik und Nützlichkeitsargumenten ein. Was braucht es aus der Sicht der zwei linken Politikerinnen, um proaktiv zu den Themen Einwanderung, Einbürgerung sowie Partizipation dranzubleiben?
 

Florian Weis (FW): Was waren deine Motive, die ihr mit einem Anlauf eines linken Einwanderungsgesetzes hattet und warum war es von Teilen der Partei, aus sehr unterschiedlichen Gründen, nicht gewollt? Wie kann man jetzt offensiv und proaktiv wieder an Elemente aus dem Anlauf anknüpfen?

Susanne Hennig-Wellsow (SHW): Die Idee entstand zwischen Udo Wolf und mir bei einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz, als es 2015 / 2016 darum ging, die Situation und Sicherheit der Geflüchteten in Deutschland, die Fluchtrouten usw. zu diskutieren. Uns war es zu wenig zu sagen: Alle Menschen, die in Europa, in Deutschland leben wollen, sollen es auch tun, die Grenzen sind offen und wir nehmen alle auf, ohne dass wir zeigen, wie das funktionieren kann. Das war der entscheidende Punkt, zu sagen: Wenn wir von Freiheit, Gleichheit, Kooperation reden, dann müssen wir auch machbare Wege aufzeigen.

In den Institutionen entfalten wir nur eine Wirkungsmacht, wenn wir auch Vorschläge auf den Weg bringen, die umsetzbar sind.

Wenn wir unsere Ideen in eine gesetzliche Form bringen, dann sind wir wesentlich weiter als mit ausschließlich politischer Rhetorik. Die reicht eben nicht, damit die Leute verstehen, dass linke Politik etwas Positives ist und wir mit Geflüchteten anders umgehen als die anderen Parteien. Das basiert auf der Grundposition, dass eine Linkspartei, die zu demokratischen Wahlen antritt, die die Welt verändern möchte, die den Menschen ein besseres Leben verspricht, natürlich auch sehr praktisch und sehr klar sagen muss wie das funktionieren kann. Also ein klares Angebot zu machen und die Institutionen zu nutzen, um die Politik in diesem Land zu verändern. Und das geht in einem demokratischen Prozess und in einer demokratischen Gesellschaft über Gesetzgebung. Das heißt, wenn wir unsere Ideen umsetzen wollen, dann müssen wir sie in Gesetze fassen, in Anträge, in Haushaltsanträge, in Geld, in Politik. Das muss man ernst betreiben, damit es auch abstimmungsfähig wird und damit auch eine Idee verwirklicht werden kann. Das war der Grund, warum wir gesagt haben, wir machen ein linkes Einwanderungsgesetz; es reicht uns nicht, ausschließlich nur über Flucht zu reden. Und insofern stimmt dein Eindruck: Wir haben auf einer Fraktionsvorsitzendenkonferenz das Konzept für ein Einwanderungsgesetz zur Abstimmung gestellt – verbunden mit der Frage, ob wir es dem Bund empfehlen können, ob alle Fraktionen das einbringen können, ob es die Bundestagsfraktion einbringt, ob wir es weiter diskutieren, und wir haben die Abstimmung verloren. Also «wir» heißt: diejenigen, die das unterstützt haben. Es gab sehr unterschiedliche Auffassungen dazu. Unsere habe ich gerade geschildert. Die anderen fanden, man darf das nicht verregeln, sondern alle müssen kommen dürfen. Und es gab auch die rechte Variante des Ganzen: Man darf nicht zu viele Geflüchtete hierherholen. Also am Ende stand der Gesetzentwurf in der Mitte der Positionen der Akteur*innen der Partei und hat das Licht der Welt nicht erblickt. Aber wenn die Ideen das Licht der Welt erblicken sollen, müssen wir uns an der parlamentarischen und gesetzgeberischen Arbeit beteiligen.

Katina Schubert ist Mitglied der Fraktion Die Linke im Abgeordnetenhaus Berlin. Die Bundestagsabgeordnete Susanne Hennig-Welsow (Die Linke) hat ihren Wahlkreis in Weimar.

Florian Weis ist Referent für Antisemitismus und jüdisch linke Geschichte und Gegenwart, Rebecca Gotthilf Bildungskoordinatorin internationale Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

FW: Als Rebecca die Initiative für dieses Dossier startete, hatten wir den Eindruck, dass das voraussehbar war: Irgendwann wird eine Regierung kommen, die wird Vorschläge machen, und wir stehen blank da, weil es gegenüber eurer damaligen Initiative eine Verweigerung gegeben hat. Und deshalb die Frage, wie man jetzt in diese Sachen noch einmal intervenieren könnte. Also vielleicht ein paar fragende Beispiele. Das eine wäre eine Offensive, sowohl den Geist von Verwaltung zu ändern, Stichwort Willkommenskultur, als auch die materielle Ausstattung der Verwaltung so zu verbessern, dass sie imstande ist, das zu gewährleisten. Das zweite wäre auch Menschen, die selbst oder deren Eltern die Erfahrung gemacht haben, vor einer Ausländerbehörde stehen zu müssen, dort hineinzubringen. Ich finde das Beispiel aus Baden-Württemberg mit dem jungen Deutschsyrer sehr schön, der vor sieben Jahren nach Deutschland gekommen ist, in der Verwaltung gearbeitet hat, eingebürgert wurde und jetzt Bürgermeister in einem zweieinhalbtausend Einwohnerort ist. Also wie können wir da realistisch in die Debatte intervenieren? Zum Beispiel muss die Frist verlängert werden oder die Hürden für die zu erbringenden Papiere müssten geändert werden. Darüber hinaus müssen wir uns die Frage stellen, wie wir die Partei ermutigen, die Debatte mit etwas Mut zu führen und nicht mit lauter Sorgen, was schiefgehen kann.

SHW: Also ich glaube, dass man bei Flucht und Migration viele Themen ansprechen kann, die Menschen als Problem in diesem Land betrachten. Wir kennen vorurteilsbehaftete Fragen: Wieso gehen die eigentlich nie arbeiten, die liegen uns auf der Tasche. Einerseits. Andererseits haben wir das ganze Thema Arbeitskräftemangel. Dabei die Frage, was macht man eigentlich mit Nützlichkeitsargumenten? Es ist aus meiner Sicht relativ einfach, als Linke darüber nachzudenken, wie man eine progressive Debatte unterstützt und den Geflüchteten hilft, in Deutschland und Europa anzukommen. Der Schritt wäre: Weg mit dem Asylbewerberleistungsgesetz, rein in das Bürgergeld. Damit verbunden wäre eine Gleichstellung und die Vermittlung in Berufe, Jobs und Ausbildungen, Verkürzung der Anerkennungsphasen, die Vereinfachung der Anerkennung hier in Deutschland, die Vereinfachung der Prüfung und und und … Ich finde, das ist erstmal grundsätzlich kein Nützlichkeitsargument. Auch wenn wir darüber reden, Fluchtursachen zu bekämpfen, wird der Klimawandel dafür sorgen, dass wir eine erhebliche Klimaflucht erleben werden, und dann müssen wir diesen Menschen hier eine Perspektive geben. Ich finde, das ist tatsächlich eine Chance. Die Thüringer*innen sind da mit gutem Beispiel vorangegangen: Ein eigenständiges Migrationsministerium bilden, was die Vermittlung von Migrant*innen, gleichzeitig aber auch die Unterbringung kurz nach der Flucht, die Verteilung in Thüringen, die Unterstützung der Kommunen, alles gewissermaßen in einer Hand bündelt. Das wäre auch eine Lösung dafür, wie man das Thema Migration in den Ländern, in den Kommunen komplex bearbeiten kann. Und diese Möglichkeit könnte der Bund unterstützen und wir könnten sie in den Ländern fordern.

Menschen in die Gesellschaft zu integrieren, bedeutet, sie mit denen gleichzustellen, die schon immer oder bereits länger in dieser Gesellschaft leben, ihnen all die Möglichkeiten zu geben, die diese schon haben. Dafür gibt es einige prägnante Punkte, beispielsweise die Anerkennung der Abschlüsse. In Thüringen gab es bisher zu wenig Personalstellen dafür, die Bearbeitung dauerte deswegen Jahre. Ein anderer Punkt betrifft die Gesundheit. Wir haben viele Menschen, die nicht zum Arzt gehen können, weil sie keine Papiere haben. Da kommt die Krankenversicherung für Menschen ohne Papiere ins Spiel. In Thüringen haben wir beispielsweise den anonymen Krankenschein für die Versorgung von Geflüchteten oder Menschen ohne Papiere. Das Modell gibt es aber bisher nicht bundesweit.

Eigentlich liegt viel auf der Hand, was man in der Debatte anbieten kann. Man müsste es noch zusammenbinden mit Klimaflucht, Fluchtursachen, mit einem Perspektivwechsel im Hinblick auf Menschen, die zu uns kommen. Und man darf die europäische Dimension nicht außer Acht lassen. Die Vorhaben der EU sind derzeit eine absolute Katastrophe. Mit NGOs und anderen müssen wir versuchen, diese zu verhindern.

Was den Umgang mit Migration und Geflüchteten angeht, müsste aus meiner Sicht damit begonnen werden, sichere Fluchtrouten zu schaffen.

Sprich: Die Leute dürfen auch in den Flieger steigen und kriegen ein Visum, damit sie sicher bei uns ankommen können; dann hätten wir auch die Problematik um Drittstaaten anders behandelt. Ich finde, bei der Zukunft Europas, des Klimas und dessen, was als Gesellschaft benötigt wird, kann man als Linke durchaus einen Punkt setzen. Ich glaube, dass die Menschen das verstehen, dass Fachärzt*innen oder Pflegekräfte fehlen und so weiter. Denn das ist lebensnah. Und das kann man positiv besetzen, ohne dass das eine Nützlichkeitsargumentation wäre.

FW: Was können wir jetzt beim Chancen-Aufenthaltsgesetz und beim Spurwechsel tun? Die Bundesregierung redet von 150.000 Menschen, denen das nutzen soll, die Bundestagsfraktion hat ungefähr eine viertel Million errechnet. Mein Eindruck ist, dass viel mehr Menschen in diesen elenden Duldungsketten leben. Gäbe es vielleicht über den Bundesrat oder über die Länder Möglichkeiten, zu erreichen, dass trotz all der Begrenzungen möglichst viele davon profitieren? Deine griffige Formulierung «raus aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, rein ins Bürgergeld» hieße ja zum Beispiel auch: Arbeitserlaubnis vom ersten Tag an.

Katina Schubert (KS): Ich will noch auf etwas Anderes hinweisen: Bei der Programmdiskussion 2010 / 2011 hatte das Thema «offene Grenzen für Menschen in Not oder offene Grenzen für alle» ja durchaus eine gewisse Relevanz, was die innerparteiliche Gemengelage anbetraf. Und damals gehörten zum Beispiel Katja Kipping genauso wie Matthias Höhn zu den vehementesten Verfechter*innen der Formulierung «offene Grenzen für alle». Ich habe das immer für eher problematisch gehalten, weil ich wusste, das bringt uns mit Organisationen wie Pro Asyl in Konflikt, weil das eben de facto das Asylrecht abwertet. Für Pro Asyl ist eine Operationalisierbarkeit von Recht wichtiger als ein programmatisches Bekenntnis, so gut wie das ist. Bedingt durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, entstand ein gewisser Praxisschock für die Berliner Verwaltung und die damalige Sozialsenatorin Katja Kipping, die vor der Herausforderung stand, zehntausende Geflüchtete unterzubringen. Diese plötzliche Verantwortung von heute auf morgen 70.000 Menschen unterzubringen hat viele praktische Fragen aufgeworfen. Wie muss man da operativ handeln? Was heißt das für Regierungshandeln, welche Stellen muss man da wie miteinander verbinden? Und wie ändert sich dann möglicherweise auch der Blick darauf, was für linke Politik erforderlich ist, um auf so etwas vorbereitet zu sein und das auch gesellschaftspolitisch abzusichern? Diese unfassbare Integrationsleistung läuft nach wie vor und ist prekär. Und ich fürchte, dass die neue Regierung da nicht mit annähernd so viel Verve dabei ist, wie es die alte war. Insofern sind wir da gefordert und ich glaube, wir werden nur eine Chance haben, wirklich als Antipode zur politischen Rechten wahrgenommen zu werden: Mit einer offensiven Einwanderungspolitik, mit einer offensiv antirassistischen Politik und nicht mit einer verdrucksten Politik des «Nicht-darüber-Redens». Das ist dazu schon notwendig. Und dann ist es eben auch hilfreich, wenn wir Fragen beantworten können, und zwar ganz praktische Fragen, wie wir sie jetzt besprochen haben.

Wir müssen unsere Politik erklären können und die Leute müssen verstehen können, was wir eigentlich wollen.

SHW: Wir haben alle Erfahrungen gemacht mit der negativen Stimmung in der Bevölkerung gegenüber Geflüchteten, und die fängt man nicht auf mit der Position: «Alle müssen kommen». Sondern man muss sagen: «Alle, die hierher kommen wollen, können kommen, weil wir dies, das, jenes tun können, das gemeinsam hinbekommen und am Ende alle etwas davon haben.» Also eine Win-Win-Situation. Je konkreter, desto besser; umso fassbarer, umso einleuchtender. Und wir haben es bei Migration mit komplexen Prozessen zu tun.

[Susanne Hennig-Wellsow muss an dieser Stelle die Gesprächsrunde verlassen.]