News | Geschichte - Parteien- / Bewegungsgeschichte Lassalle gehört auch der Linken

Rosa-Luxemburg-Stiftung würdigt 150 Jahre ADAV mit geschichtswissenschaftlicher Konferenz Konferenzbericht von Wulf Skaun

 

Wem gehört Lassalle, der Linken oder der SPD?, spitzte "neues deutschland" die Frage zu, als die Linkspartei kürzlich in Berlin dem 150-jährigen Jubiläum des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) ein Forum widmete. Aus gleichem Anlass hatten die Rosa-Luxemburg-Stiftung und die Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen am 20. April zu einer geschichtswissenschaftlichen Konferenz in Leipzig eingeladen. Statt rhetorischer Frage hieß die klare Antwort: beiden. Die Gründung des ADAV am 23. Mai 1863, der ersten sozialistischen Arbeiterpartei, von der SPD als ihr Geburtstermin deklariert, gehört auch für die Linkspartei und die Linken zu einer wichtigen Quelle und Tradition.

Dagmar Enkelmann fand in ihrer Begrüßungsrede als Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung eine anschauliche Metapher, den „bizarren Streit“ um die Traditions- und Deutungshoheit um die Anfänge der organisierten Arbeiterbewegung, einschließlich des ADAV, zu entkrampfen. Aus einer Wurzel wuchs ein Stamm mit mehreren Ästen, die sich nach links, rechts, in der Mitte verzweigten, sich unterschiedlich entwickelten, abstarben, neu bildeten. Heute als SPD und Linkspartei wahrnehmbar. Mit ihren Befunden aktueller SPD-Politik nach innen und außen – von Hartz IV bis zu unterstützten deutschen Kriegseinsätzen – und der Scheinfrage, ob das mit der sozialen Demokratie des ADAV vereinbar sei, leitete sie ihre Conclusio her: „Kooperation zwischen der Linken und der SPD – okay. Aber es lohnt nicht, über Formen eines Zusammenschlusses nachzudenken.“ Denn die SPD, schob sie später in der Diskussion nach, stelle Grundsätze der Gesellschaft nicht mehr in Frage. Sie sei vielmehr „Teil einer liberalen Gesellschaft, die sie bewahren will.“ Hörte man Tucholskys „selbstständigen  Gemüsehändler“, der die SPD vor 80 Jahren studiert hatte, erleichtert aufatmen, dass mit ihr Revolution auch weiterhin nicht drohe?

Helga Grebing, Mitglied der Historischen Kommission der SPD, verbarg ihre Irritation ob der unverhüllten Ansage ihrer Vorrednerin, ehe sie sich doch durchrang, die LINKE vor der Gefahr zu warnen, sozialdemokratische Geschichte für politische Auseinandersetzung in der Gegenwart auszunutzen. „Bitte, instrumentalisieren Sie dafür nicht die Geschichte.“ Und: „Sie kennen die SPD nicht.“ In ihren äußerst kenntnisreichen Vortrag zur Frage, ob der ADAV 1863 der Anfang einer sozialen Bewegung oder nur die Auflösung einer „sozialliberalen Koalition“ sei, flossen Erfahrung und Weisheit eines langen Wissenschaftlerlebens mit ein. Pointiert formulierte die Professorin ihren Zweifel, ob die Gründung des ADAV durch 12 Delegierte wirklich die Geburtsstunde der SPD gewesen sei. Sie frage sich, ob die Geschichte der Sozialdemokratie nicht erst mit der Vereinigung von Bebels und Liebknechts Sozialdemokratischer Arbeiterpartei SDAP und Lassalles ADAV 1875 in Gotha beginnen sollte.  Deshalb versuche sie, den „Mythos der ADAV-Gründung im Mai 1863 aufzulösen.“ Es sei der Prozesscharakter dessen zu verdeutlichen, was später sozialdemokratische Arbeiterbewegung, soziale Massenbewegung genannt wurde. Auf die ADAV-Jubiläumsfeier der SPD im Juni 2013 mit der CDU-Kanzlerin als Gast vorausblickend, frotzelte sie, da müsse sich Frau Merkel anstrengen. Schließlich habe Adenauer ihrer Partei zum 100. SPD-Geburtstag große Verdienste „um den freiheitlich demokratischen Aufbau unseres Vaterlandes“ attestiert.

Als Philosoph unter den Historikern meldete sich Michael Brie zu Wort. Auch das gehöre zur Historie von Arbeiterbewegung und Parteigeschichte, ordnete er sein brisantes Thema ein: „Der Bruch mit dem Leninismus als System, Sozialismus und Demokratie – eine historische Tragödie.“ Die sehr stringente Abhandlung, die er genregemäß in fünf Akten vortrug, zog das Publikum in ihren Bann und ermunterte es, den Ausführungen des Institutsdirektors für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung eigene Überlegungen hinzuzufügen. Brie stellte den argen Weg der Erkenntnis (und öffentlichen Diskussion) dar, der seit 1989/90 für eine radikale Erneuerung der SED/PDS beschritten wurde. Hieß es bereits damals „Wir brechen unwiderruflich mit dem Stalinismus als System“, setzte sich in den vergangenen Jahren immer mehr die Einsicht durch, dass die Einheit von Sozialismus, Demokratie und Freiheit bereits in der Leninschen Konzeption vom Aufbau der neuen Gesellschaft aufgegeben wurde. Brie fasst Leninismus als „Versuch der Durchsetzung einer gemeinwirtschaftlichen Ordnung mit den Mitteln einer kommunistischen Staatspartei“. Und belegte das anhand überzeugender Analysen „realsozialistischer“ Ökonomik und Politik. Mit einem  Ausblick, wie sich die Geschichte der Linken – nicht mehr als Tragödie – künftig entwickeln könne, schloss er.

Welche Bedeutung die Gründung des ADAV für die Linke hat, arbeiteten auch die folgenden Referenten, allesamt hochkarätige Historiker,  heraus. Klaus Kinner stellte als einer der Herausgeber eine neue Wilhelm-Liebknecht-Biografie vor. Sein 2010 verstorbener Kollege Wolfgang Schröder hatte in 40-jähriger Forschung  umfangreiche Materialien über den Kampfgefährten August Bebels hinterlassen.  Jutta Seidel beleuchtete den ADAV „im Spektrum der internationalen Arbeiterbewegung“, wobei sie sich besonders Wilhelm Bracke zuwendete. Einen glanzvollen Schlusspunkt unter eine „angemessene Würdigung der ADAV-Gründung“, wie es die Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Monika Runge, formulierte, setzte Manfred Neuhaus. Bereits sein Thema „Ferdinand Lassalle und Karl Marx – zur Ärchäologie einer Hassliebe“ ließ nicht nur Einblicke in das öffentlich-politische Wirken der beiden Großgestirne der Arbeiterbewegung, sondern auch in private Beziehungen erwarten, delikate Petitessen einbegriffen. Neuhaus enttäuschte sein Publikum nicht und erstaunte es am Ende mit einem Briefzitat des als bärbeißig geltenden Karl Marx nach Lassalles frühem Duell-Tod: „(ich) liebte ihn persönlich. Das Schlimme ist, daß wir es uns wechselseitig immer verhehlten, als sollten wir ewig leben.“

 (Siehe auch Wulf Skaun: Der Mann, den Marx liebte. Rosa-Luxemburg-Stiftung feierte 150 Jahre ADAV und stellte klar: Lassalle gehört auch der LINKEN.  In: neues deutschland. 27./28. April 2013. S. W7.)