«Er kehrte 1994 zurück, mit der ersten Gruppe der PLO-Rückkehrer, denen es nach der Unterzeichnung des Oslo-Abkommens erlaubt war, nach Palästina zurückzukommen. Seitdem er 1968 nach Jordanien geflohen war, war er nicht mehr hier gewesen. Er schrieb mir an diesem Tag einen Brief und erzählte, wie glücklich er sei, zurückzukehren. Er schrieb mir, wie sehr er seine Stadt vermisst habe, die Straßen seiner Kindheit, seine Familie, seine Freunde. Er schrieb, wie sehr es ihn verärgert habe, dass er von einem israelischen Soldaten kontrolliert wurde, und dass die israelische Fahne so nah war, dass er seine Augen mit seinen Händen bedecken musste, um sie nicht zu sehen. Er erzählte mir, wie traurig er war, zurückzukehren mit diesem halben Sieg. Sein Traum von der Rückkehr hatte sich erfüllt, sein Traum von Freiheit war verschoben. Zwanzig Jahre nach diesem Tag bin ich es, der geht. Ich möchte nicht mehr in diesem halben Traum verharren. Ich möchte diesen gescheiterten Sieg verlassen. Dieses Land wurde verflucht mit Friedensprozessen, mit Träumen, die von Checkpoints und Frust blockiert werden.» (Leaving Oslo, Kurzfilm von Yazan Khalili).
20 Jahre nach Beginn des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses im Jahr 1993 wollten wir im Palästina-Büro der Rosa Luxemburg Stiftung der Frage nachgehen, wie Palästinenser diesen Prozess erinnern, wie sie die Folgen des Oslo-Prozesses reflektieren und was das Scheitern der Verhandlungen für ihr Leben heute bedeutet. Wir haben darauf verzichtet, weitere Studien und Analysen zu den Herausforderungen und Schwierigkeiten von Oslo anzufertigen, vieles ist dazu in den letzten beiden Jahrzehnten geschrieben worden. Wir hofften stattdessen, mit der Produktion von Kurzfilmen und Videoclips andere Zugänge zu diesem Thema zu finden, die irritieren, Interesse wecken und die zeigen, dass die Oslo-Abkommen die Aussetzung der allermeisten Rechte der Menschen in Palästina bedeutet haben, wie es der palästinensische Literaturwissenschaftler Edward Said bereits 1993 formulierte (Edward Said, The Morning After).
20 Jahre nach Beginn des Oslo-Prozesses bestimmt die Besatzung weiter die Realität in den Palästinensischen Gebieten. Gewalttätige Übergriffe von Seiten der israelischen Armee und von militanten Siedlern prägen den Alltag. Dazu zählen Überfälle auf Dörfer, die Verwüstung und Zerstörung von Eigentum, das Fällen von Olivenbäumen sowie die Verbrennung von Obstbäumen und Ernten. Hausdurchsuchungen und Verhaftungen stehen auf der Tagesordnung, insgesamt befinden sich im Jubiläumsjahr von Oslo 4762 Palästinenser in israelischer Gefangenschaft, davon 179 Kinder (Palestinian Academic Society for the Study of International Affairs (PASSIA) 2014, Stand: August 2013). Es ist vor allem die fortgesetzte Konfiszierung und Zerstörung der Westbank durch den Bau bzw. Ausbau von Outposts, Siedlungen und Straßen sowie durch die Errichtung diverser Sperranlagen - Mauer, Zäune, permanente und temporäre Kontrollposten, - die ein Ende der Besatzung und die Entwicklung eines unabhängigen palästinensischen Staates an der Seite Israels immer unrealistischer erscheinen lassen. Mittlerweile gibt es in der Westbank mindestens 121 Siedlungen sowie mehr als 100 nicht legale, aber geduldete Outposts mit insgesamt rund 340 000 Einwohnern (Zahlenangaben von PeaceNow, zit. nach PASSIA 2014). Im Gazastreifen hat sich mit der Übernahme des Militärs in Ägypten die humanitäre Krise, die aufgrund der israelischen Abriegelungspolitik ohnehin zum Dauerzustand geworden ist, weiter verstärkt, da das neue Regime unmittelbar nach der Machtübernahme den Grenzübergang zum Gazastreifen schließen ließ und einen Großteil der Tunnelstruktur, über die Gaza bis dato versorgt wurde, zerstörte. Erneute Preiserhöhungen sowie ein massiver Mangel an Grundnahrungsmitteln, Medikamenten und Treibstoff ist die Folge der nunmehr beidseitigen Abriegelung des Gazastreifens. Die Lage in Palästina wirkt wie zementiert, daran ändert auch die Wiederaufnahme von Verhandlungen im vergangenen Jahr nicht viel. Ganz im Gegenteil, die zunehmende Kolonisierung der Palästinensischen Gebiete in Form von Landnahme und Siedlungsbau führt die Verhandlungsbemühungen aus Sicht der Mehrheit der Palästinenser geradezu ad absurdum.
20 Jahre nach Beginn des Oslo-Prozesses besteht in Palästina ein weitgehender Konsens darüber, dass die damals geschlossenen Abkommen (mit-)verantwortlich für die gegenwärtigen Probleme palästinensischer Politik, Wirtschaft und Gesellschaft sind. Mit der Etablierung des «System Oslo» sind auf politischer und sozio-ökonomischer Ebene Strukturen und Muster entstanden, die den palästinensischen Bestrebungen nach Selbstbestimmung und staatlicher Unabhängigkeit entgegenwirken. Grundlegend ist hier zum einen die Aufteilung der Palästinensischen Gebiete in verschiedene Zonen (A, B, C), von denen der palästinensischen Autonomiebehörde (PA) nur ein kleiner Teil vollständig unterstellt ist (Zone A, ca. 17%). Ein weiterer Aspekt ist die weitreichende Kontrolle der Behörden durch Israel, insbesondere in den Bereichen Sicherheit und Wirtschaft. Aufgrund der kontinuierlichen Behinderung der Entwicklung einer eigenständigen Wirtschaft durch diverse Abkommen sowie das restriktive Grenzregime, z.B. keine Souveränität über Außengrenzen, sind die Palästinensischen Gebiete seit den 1990er Jahren in hohem Maße von internationaler Hilfe abhängig. Mehr als 15 Milliarden USD sind seit 1993 an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) gezahlt worden, immerhin 15% des jährlichen GDP. Es hat sich vor Ort eine «Hilfe-Industrie» etabliert, die nicht nur die sozio-ökonomische Struktur des Landes dominiert, sondern darüber hinaus auch die politische und soziale Verfasstheit des Landes verändert hat. Vor dem Hintergrund der Hilfszahlungen und den Hunderten von Institutionen und Organisationen, die in diesem Zusammenhang entstanden sind oder die sich in Palästina angesiedelt haben, geht die Geberabhängigkeit einher mit Prozessen der Entpolitisierung, des Brain Drain von politischen Organisationen hin zu – besser bezahlten – Jobs in Nichtregierungsorganisationen und Formen der Pazifizierung von Politik und Zivilgesellschaft. Zusammen mit den neoliberalen Wirtschaftsansätzen der PA sind es diese Faktoren, die die zunehmende gesellschaftliche Fragmentierung zwischen Stadt und Land, Arm und Reich, Menschen mit und ohne Zugang zu den genannten Ressourcen ausmachen. Hohe Arbeitslosigkeit und Armut bedrohen weiterhin die Teilhabe breiter Bevölkerungsgruppen an Entwicklungsprozessen, das gilt insbesondere für Jugendliche und junge Erwachsene sowie für marginalisierte Gruppen im ländlichen Raum. Die Perspektivlosigkeit und Frustration der gesellschaftlichen Mehrheit angesichts ihres Ausschlusses von Wohlfahrt und Wohlstand, trifft auf eine Minderheit von Privilegierten, die sich auf unterschiedliche Art und Weise im Status Quo eingerichtet haben. Dazu zählen Teile der sogenannten Rückkehrer, aus den Golfstaaten, Nordamerika, Europa, arabische Staaten, Teile der lokalen Großgrundbesitzer sowie der Neureichen, die in jüngster Zeit und durch die Nutzung des Status Quo – oft durch enge Verzahnung mit der palästinensischen Regierung und oder durch Kooperationen mit israelischen Firmen – zu Wohlstand gekommen sind.
20 Jahre nach Beginn des Oslo-Prozesses haben innergesellschaftliche Fragmentierungsprozesse in Palästina weiter zu und gesellschaftliche Solidarisierungsprozesse weiter abgenommen. Das Fehlen demokratisch legitimierter Strukturen seit 2006 einschließlich eines fehlenden funktionstüchtigen Parlaments, die fortgesetzte politische Spaltung zwischen dem Gazastreifen und der Westbank, bis zur Bedeutungslosigkeit geschwächte politische Parteien sowie die besagte Alimentierung und Fragmentierung, all dies sind Aspekte, die nicht nur die Entwicklung von Handlungsmustern für eine eigenständige und sozial-ökonomisch gerechte Entwicklung Palästinas erschweren, sie behindern auch die Entwicklung gemeinsamer politischer Strategien gegen die Besatzung und für staatliche Unabhängigkeit.
Wie kann diese verwirrende und verstörende Situation in Bildern ausgedrückt werden? Wie können heute Bilder geschaffen werden, die als historische Referenz an den Oslo-Prozess gelten können? Diese Fragen haben die Produzenten von Idioms Film, Mohanad Yacubi und Sami Said, die das Projekt «Suspended Time» geleitet haben, palästinensischen Filmemachern und Videokünstlern gestellt. Herausgekommen sind neun Kurzfilme, eine Montage sehr verschiedener Eindrücke, Reflektionen und Imaginationen: Historische Aufnahmen und Interviews in Dauerschleifen (Twenty Handshakes for Peace, Mahdi Fleifel), endlose Wiederholungen, die Bilder schließlich bis zur Unkenntlichkeit verpixelt (Long War, Asma Ghanem). Persönliche Erinnerungen, festgehalten in Briefen, spiegeln die Hoffnungen, aber auch die Enttäuschungen über Oslo wider (Oslo Syndrome, Ayman Azraq), Geschichten vom Weggehen und Ankommen, von Rückkehr und erneutem Aufbruch (Leaving Oslo, Yazan Khalili). Phantasien von Geschenken, die die Freundin zum Geburtstag bringt, stattdessen wird sie am Checkpoint festgehalten (Appartment 10/14, Tarazan und Arab Nasser), Bilder vom Eingesperrtsein in Wohnungen und Situationen (Interferences, Amin Nayfeh), die Wut der Kinder, die den amerikanischen Präsidenten auf Facebook über ihre Lage informieren möchten (Message to Obama, Muhannad Salahat). Geschrei aus Ramallah (From Ramallah, Assem Nasser) und ein Sofa, das mit viel Kraft und Aufwand durch die engen Gassen eines Flüchtlingslagers getragen wird, nur damit sich am Ende herausstellt, dass es das falsche Sofa ist – bestellt war ein anderes (Journey of a Sofa, Alaa Al Ali).
Am 12. Februar 2014 wurden die neun Filme und Clips erstmalig im Khalil Sakakini Cultural Center in Ramallah gezeigt. Das Interesse an der Produktion war überwältigend, rund 140 Leute kamen, um die Filme zu sehen und über sie zu diskutieren, weitmehr Menschen als in den Raum passten, viele mussten auf dem Boden sitzen oder im Treppenhaus stehen. Die Idee, die Filme in einem Preview zu zeigen und das Feedback der Besucher in die letzte Überarbeitung einfließen zu lassen, ist aufgegangen. Die anschließende intensive Diskussion drehte sich im Wesentlichen um Filmfachliches, um die Diversität der Filme, die verschiedenen Genres und um die Frage, inwieweit diese trotz und mit dieser Unterschiedlichkeit auch in einer Gesamtschau funktionieren. Über die Folgen von Oslo wurde dagegen so gut wie gar nicht gesprochen, verstörende Bilder als Normalität, suspended time in Ramallah.
Bei Interesse an den Filmen: info@rosaluxemburg.ps
Katja Hermann, Büroleiterin des Palästina-Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung