Yves Müller rezensiert auf www.kritisch-lesen.de
Nils Schuhmacher: "Nicht nichts machen"? Selbstdarstellungen politischen Handelns in der Autonomen Antifa, Duisburg 2014, 304 Seiten, 19,90 EUR
„... und daraufhin hat sich einfach nur 'ne politische Praxis gebildet, indem wir gesagt haben: O.k., […] wir müssen jetzt was machen und es gab 'ne Demo damals und das waren so überhaupt die ersten Anfänge, in […] antifaschistische Arbeit jetzt real einzusteigen, 'ne Demo organisieren, dann auch woanders an Demos teilnehmen, Werbung für Veranstaltungen zu machen, plakatieren, diese ganze Geschichte, Sprühereien, was weiß ich“ (S. 111).
So und ähnlich werden wohl viele Aktive in der Antifa-Bewegung ihren Einstieg beschreiben. Und weil uns selbsternannten Szene-Kenner*innen eigentlich klar ist, wieso Leute anfangen, sich politisch zu engagieren, stellt sich die Frage, ob so ein Buch nötig ist – eine wissenschaftliche Publikation, ziemlich dröge zumal –, die uns erklären will, warum Antifas das tun, was sie eben tun. Brauchen wir das? Brauchen wir nicht.
Oder doch? Wer oder was ist eigentlich die „Antifa“? Tatsächlich wissen wir nur, dass wir so viel doch nicht wissen, dass nämlich „wenig über Praxen und soziale Fundamente dieser Antifa-Politik und noch weniger über Motive und Motiviertheiten der Beteiligten bekannt ist und viele Einschätzungen empirisch nicht sonderlich belastbar sind“ (S. 14). Für die sozial- und politikwissenschaftliche Bewegungsforschung in Deutschland war die wohl wirkmächtigste linksradikale Strömung der letzten 30 Jahre bislang kein Thema, Neuland sozusagen. Während man sich mit den „68ern“, der Roten Armee Fraktion, der Entstehung der Partei Die Grünen, den Montagsdemonstrant*innen von 1989 oder der Anti-Atom-Bewegung nur allzu gern beschäftigt, ist die Antifa eher Untersuchungsobjekt von Verfassungsschutzämtern (und ihren wissenschaftlichen Ablegern) als Gegenstand seriöser wissenschaftlicher Forschung.
Das mag seine Gründe vor allem darin haben, dass Antifa-Aktivist*innen in der Regel wenig Interesse an einer Beforschung ihrer Motive und Strategien haben. Wer etwas über die Antifa-Bewegung in Erfahrung bringen möchte, musste bislang meist auf die einschlägige Szene-Literatur zurückgreifen und in die wenigen noch bestehenden Bewegungsarchive gehen. Gerade in den vergangenen Jahren sind mehrere durchaus nicht schlechte Szene-Bücher erschienen – von der Einführung über den Erlebnisbericht bis zur interviewbasierten Darstellung. Anekdotenreich sind sie ja. Aber wissenschaftliche Ansätze können sie nicht ersetzen.
Umso erfreulicher, dass der Politikwissenschaftler Nils Schuhmacher nun seine Dissertation vorgelegt hat, die unter dem sympathischen Titel „,Nicht nichts machen?‘ Selbstdarstellungen politischen Handelns in der Autonomen Antifa“ in dem kleinen Verlag Alter Hammer aus Duisburg erschienen ist. Darin fragt der Autor, wie Antifa-Aktivist*innen ihre politische Praxis organisieren, „wie Vorstellungen, Ansprüche und Motivation zu handeln entstehen und (re)produziert werden“ und wie letztlich „Ansprüche und Praxen“ (S. 16) korrelieren, also mit der Realität abgeglichen werden. Wieso gehen manche Jugendliche, die von rechter Gewalt betroffen sind, zur Antifa – und andere eben nicht?
Theorie…
Zunächst jedoch ebnet der Autor uns den Weg zur Antifa als ‚Untersuchungsgegenstand‘ und gibt eine knappe, aber schlüssige historische und theoretische Einführung von der Entstehung in der alten Bundesrepublik der 1980er Jahre, wobei er auch die Entstehung der Antifa in der (ehemaligen) DDR streift, über die Organisierungsdebatte der 1990er Jahre bis hin zur Ausdifferenzierung der Bewegung seit den 2000er Jahren. Schließlich zeichnet Schuhmacher ein Bild der aktuellen Situation – und diese könnte tatsächlich eine ‚Krise‘ der Bewegung, wie sie ja tatsächlich immer wieder diskutiert wird, nahe legen: So sank die Zahl der Gruppen seit 2009 kontinuierlich von 295 auf nur noch 189 im Jahr 2014.
Schließlich setzt sich Schuhmacher auch mit verschiedenen Ansätzen der sozialwissenschaftlichen Partizipations- und Bewegungsforschung auseinander und nennt auch Hindernisse der Forschung. So eignen sich nur wenige Theorien und Methoden zur „Betrachtung von ‚Kleinanbieter[n] der Politik’“ (S. 68), zu denen auch Antifa-Gruppen gezählt werden könnten. Infolge der „besondere[n] Verortung von Antifa-Gruppen […] besteh[e] Bedarf an einem mehrdimensionalen Erklärungsmodell, das gleichzeitig dynamisch angelegt ist, also in Rechnung stellt, dass Motivation in Form und Inhalt um Interaktionen, Qualität der sozialen Einbindung und die Aushandlung von Identität kreist.“ (S. 69) Im Klartext: Die Antifa-Bewegung ist keine klassische Soziale Bewegung und lässt sich mit einer bloßen Übertragung der hergebrachten Theorien eben auch nicht untersuchen. Vielmehr bezieht sich Schuhmacher quasi auf einen Methoden- und Theorien-Mix und kombiniert beispielsweise die ‚Grounded Theory‘ mit anderen Ansätzen.
… und Praxis
Dieser einführende Teil mag, ebenso wie der methodische und methodologische, nicht alle interessieren, hilft aber durchaus, Fragestellungen und Arbeitsweise des Autors nachzuvollziehen. Herzstück des Buches ist aber die Auswertung der empirischen Arbeit, also der Interviews, die Schuhmacher geführt hat. Doch mit wem hat Schuhmacher da eigentlich gesprochen? Der „Feldzugang“ zu Menschen, die sich für ein Interview zur Verfügung stellen würden, war nicht ganz einfach. Mal eben Antifa-Gruppen per Email anschreiben, habe sich „als sicherste Methode für Misserfolg erwiesen“ (S. 250). Gewinnbringender hingegen war die Kontaktvermittlung durch „Gatekeeper“ (ebd.), wie Mitarbeiter*innen von Opferberatungsstellen oder Journalist*innen. Es fanden sich schließlich Interessierte, während andere „einem wissenschaftlichen Interesse an ihnen grundsätzlich ablehnend bzw. desinteressiert gegenüberstanden“ (S. 251).
Basierend auf qualitativen Interviews mit 20 (16- bis 30jährigen) Antifa-Aktivist*innen aus verschiedenen Regionen, die der Autor zwischen 2009 und 2012 führte, ging es um Fragen zu Einstiegsmotivationen und Aktivierung: „Wie entsteht in diesem zirkulären Zusammenspiel von allgemeiner Politisierung, jugendkulturell-szenischer Einbindung und damit wiederum zusammenhängender Betroffenheit von rechter Bedrohung Antifa-Engagement?“ (S. 110)
Zunächst befasst sich der Autor im empirischen Teil mit den Einstiegserzählungen, als den „Pfaden der Politisierung“ (S. 105). Und diese, das überrascht wenig, könnten typischer kaum sein: Die Interviewten berichten von rechter Hegemonie, davon, dass sie „auf’s Maul“ bekommen haben, vom Wegschauen oder dem Drang zur Ent-Politisierung und Verharmlosung durch die Stadtoberen, durch Lehrer*innen, Polizei und mediale Öffentlichkeit. Viele wurden durch andere Antifa-Gruppen, ältere Antifas oder die Bildungsangebote der Parteijugenden an politische Themen heran geführt, die ihnen bis dahin fremd waren. Gleichzeitig werden ältere Antifas und bestehende Gruppen zwar durchaus als Vorbilder gesehen, aber eben auch als überheblich und elitär, hermetisch und ausschließend beschrieben. Auch das klingt typisch. Überraschender ist hingegen der Befund, dass „asymmetrische Konfliktbeziehungen“ (S. 105), also nichts weniger als die physischen Angriffe durch Neonazis, von den Interviewten unabhängig von Ort (Stadt oder Land, Osten oder Westen) und Zeit (1990er oder 2000er Jahre) beschrieben werden. Die Einstiegsmotive für junge Antifaschist*innen unterscheiden sich also in den letzten Jahrzehnten kaum und lassen sich überall wiederfinden.
Natürlich darf die Militanzfrage nicht ausgespart bleiben: Gewalt wird von den Interviewten oft als Gegenwehr und Strategie der Selbstermächtigung beschrieben. Sie ermögliche Handlungsfähigkeit, wobei Schuhmacher zwischen einer „Inszenierung der Bereitschaft von Gegenwehr“ (S. 114) und tatsächlichem Gewalthandeln unterscheidet, das viel seltener ausgeübt werde. Interne Diskurse um Gewalt und Gegengewalt werden bei den Antifas nicht immer kritisch reflektiert oder in einen übergeordneten theoretischen Kontext gestellt, wie wir dies noch von den Autonomen der 1970er Jahre kennen. Die Aushandlungsprozesse sind eben oft banaler, wie der Interviewte Julian erklärt: „Es war klar: Wir haben auf die Fresse gekriegt […] Wir drehen das Ding um und jetzt hauen wir denen auf die Fresse. Das war Konsens. Da wurd‘ nicht viel drüber diskutiert.“ (S. 114)
Keine ‚Nabelschau‘, sondern Bewegungsforschung
In seiner Zusammenschau malt Schuhmacher das Bild von der Antifa-Bewegung „nicht einfach als ein heterogenes, sondern als ein fragmentiertes Feld“ (S. 236). Die Szenezugehörigkeit schaffe nicht nur Identifikation, wie dies vielleicht noch in den klassischen (alten) Sozialen Bewegungen möglich war, sondern auch „Möglichkeiten der Alterität“ (S. 237), also der (Binnen-)Abgrenzung. Derlei Befunde sind hauptsächlich deswegen interessant, weil dies vermutlich dem Selbstbild einer jeden Sozialen Bewegung widerspricht und jede ‚große Erzählung‘ unterminiert. Dabei ist diese Erkenntnis nicht Resultat innerlinker ‚Nabelschau‘, sondern Ergebnis unspektakulärer Forschung.
Einige Leerstellen weist der Band trotzdem auf: Obwohl das Gros der Befragten männlich ist beziehungsweise uns derart vorgestellt wird (etwa zwei Drittel), sich hier also die männliche Dominanz in der ‚Szene‘ einfach widerspiegelt, wird dies in dem Buch zwar schlüssig, aber nur am Rande problematisiert (S. 209ff.). So spielt die kritische Reflexion von ‚Gender‘ als Strukturkategorie – ebenso übrigens wie die Kategorie ‚race‘ – nur eine untergeordnete Rolle. Das überrascht, denn einige der Interviewten benennen durchaus (szeneinternen) Sexismus, ‚Mackerverhalten‘ und geschlechtliche Rollenzuschreibungen. Insbesondere die uns als Frauen vorgestellten Befragten weisen deutlich nicht nur nur auf männliches Gewalthandeln, sondern ebenso auf andere habituelle Rollenmuster hin. Weibliche Selbstbehauptungsstrategien werden hier nur knapp angerissen und nicht mit den gängigen Theorien verknüpft. Auch einen eventuell nützlichen Ost-West-Vergleich zieht der Autor nicht, wenngleich er hier und da durchaus die Herkunft beziehungsweise Verortung der interviewten Protagonist*innen nennt und mitunter darauf eingeht. So werden die Antifas nicht als „Ossis“ oder „Wessis“ befragt, was gerade im Kontext durchaus divergierender Erfahrungshorizonte spannend gewesen wäre. Etwas deplatziert wirkt das letzte Kapitel, in dem Schuhmacher das ‚Design‘ seiner Arbeit erläutert.
Sicherlich ist diese wissenschaftliche Arbeit nichts für Einsteiger*innen, die etwas über die Antifa lesen wollen. Auch bedarf es zum Verständnis einer gewissen Übertragungsleistung. Manche Fachbegriffe müssen erst einmal nachgeschlagen werden. Aber Schuhmacher öffnet ein Feld für den wissenschaftlichen Diskurs und bietet gleichzeitig eine lesenswerte kritische Betrachtung der Antifa-Bewegung.
Wir danken Yves Müller für die Erlaubnis zur Veröffentlichung.