Projekt “Analysen zur politischen Meinungsbildung”. von Michael Chrapa
Manuskripte 15 der RLS
Inhalt
0. Einleitung
1. Möglichkeiten und Probleme bei politischen Handlungsansätzen - theoretische Aspekte
2. Formen politischen Handelns und Einstellungen in der deutschen Bevölkerung - empirische Fakten
3. Handlungstypen und Handlungspotenziale
4. Erklärungsmuster für Möglichkeiten politischen Handelns
5. Zusammenfassende Überlegungen - Schlussfolgerungen für die Aktivierung politischen Handels
Anhang:
Ausgewählte Tabellen
Literaturübersicht
Einleitung
Mit dem vorliegenden Text wird ein in der aktuellen Sozialwissenschaft in unterschiedlichem Maße behandeltes Thema aufgegriffen, das jedoch für linke Politik und Praxis außerordentlich große Relevanz besitzt. Obwohl in den letzten Jahren ausführliche, zumeist recht kontrovers verfasste Beiträge zur „Handlungstheorie“ erschienen und obgleich auch einige hochinteressante Arbeiten zu Problemen „politischer Partizipation“ entstanden, bleiben zahlreiche Aspekte noch offen. Dies betrifft vor allem die einfach anmutende Frage, ob, in welchem Maße und in welchen Formen „durchschnittliche“ Bürgerinnen und Bürgern vor dem Hintergrund einer im Umbruch befindlichen und von zahlreichen tiefen Konflikten gekennzeichneten deutschen Gesellschaft zum politischen Handeln bereit wären. Der Widerspruch zwischen „Handlungsnotwendigkeit“ und der tatsächlich festgestellter Aktivität vieler Menschen im politischen Raum wirkt in mehrfacher Hinsicht befremdend und mitunter sogar angsteinflößend. Dieses Widerspruchfeld zeigt sich u.a. anhand folgender empirisch belegter Fakten: Seit Jahren existiert im gesamten Bundesgebiet ein hoher Anteil von Unzufriedenheit mit der praktizierten Demokratie (Fuchs 1997; Chrapa/Wittich 1999; Croissant/Thiery 2000; Sozialreport 2000), der im Jahr 2000 weiterhin über 50 Prozent der Meinungen bestimmt. (Chrapa/Wittich 2001). Ebenso drängend wird von 70-80 Prozent der Wahlberechtigten die Notwendigkeit einer „(grundsätzlichen) Änderung“ der Gesellschaft in der Zukunft eingefordert, und dennoch bleibt der Anteil von „Eigenaktiven“ auf dem direkt politischen Handlungsfeld mit Werten um 10 Prozent sehr gering (FOKUS 1998; Chrapa/Wittich 2000).
Im Kontext der politisch weiterhin außerordentlich brisanten Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus und Rassismus steht das genannte Problem gewissermaßen auf einem aktuellen Prüfstand: Einerseits verkörpert die Praxis des Rechtsextremismus wohl unbestritten eine besondere (dehumane und oft verbrecherische) „Handlungsmacht“, deren konkrete Mechanismen für etliche Beobachterinnen und Beobachter allerdings schwer nachvollziehbar sind. Die dringend notwendige „zivilgesellschaftliche Aktivität“ stellt andererseits zweifellos ebenfalls eine spezifische Form des Handelns dar; nähert man sich diesem Thema jedoch genauer, dann wird häufig außer zahlreichen Appellen die teils naive, teils ehrlich verwunderte Klage deutlich, warum denn - trotz brennender Anlässe - nicht mehr Menschen aktiv seien.
In Spektrum linker Politik ist der skizzierte Widerspruch ebenfalls anzutreffen. In Publikationen dominieren Deskriptionen von Handlungsverläufen, eher grobe Umschreibungen von möglichen Akteuren und Akteursgruppen sowie zahlreiche Forderungen (oder Wünsche) zu künftig notwendigen Handlungsschritten (Siehe Klein u.a. 2000: 371-376).
Nahezu ausgespart bleiben konkretere Analysen zu den Motivationen von Akteuren, zur Spezifik von Handlungsformen oder zu Mechanismen des Handelns in der Wechselwirkung mit Faktoren der Meinungsbildung oder mit situationalen Einflüssen.
Mit dem hier zur Diskussion gestellten Text ist der Autor bestrebt, einen Beitrag zur Bearbeitung dieser widersprüchlichen und im Ganzen unbefriedigenden Situation zu leisten. Gestützt auf Überlegungen im Kontext moderner Handlungstheorie, die sich vor allem auf Phänomene des kollektiven politischen Handelns beziehen, wird nach Antworten zu den folgenden Fragen gesucht:
(1) Welche empirisch feststellbaren politischen Handlungsformen gehören zur Verhaltenspraxis der (wahlberechtigten) deutschen Bevölkerung? Worin bestehen dabei bedeutsame Gemeinsamkeiten oder Differenzen zwischen den Bundesgebieten „Ost“ und „West“?
(2) Wie können Gruppen bzw. „Typen“ charakterisiert werden, die sich in Bezug auf die verschiedenartige Ausprägung von Handlungsbestrebungen oder in Hinsicht auf mögliche „Radikalisierungen“, z.B. durch die Anwendung auch unkonventioneller Formen, unterscheiden? Gibt es Populationen, die gleichsam „erschließbare Handlungspotenziale“ verkörpern, und welche Merkmale sind für diese Gruppen zutreffend?
(3) Lassen sich - aus makroskopischer Sicht - Faktoren ermitteln, von denen mit gewisser Sicherheit ausgesagt werden kann, dass sie sich fördernd bzw. hemmend auf Handlungsbereitschaften einwirken? Welche Konsequenzen wären daraus für die politische Aktivität linker Akteure abzuleiten?
Als Faktenbasis für die vorgenommenen Analysen dienten vor allem Datensätze des ALLBUS (1991 bis 1998) und ausgewählte FOKUS-Studien (bis 1999) sowie einige Daten aus aktuellen, laufenden Untersuchungen (Ende 2000). Bei der statischen Bearbeitung wurden erprobte Prüfverfahren und Methoden der multivariaten Regressionsanalyse verwendet (Clauß u.a. 1999).
Umfang und Aussagemöglichkeiten des vorgelegten Textes sind naturgemäß begrenzt. Dennoch soll mit der Arbeit versucht werden, eine Diskussion zur umrissenen Thematik anzuregen, mit deren Hilfe eine größere Aufmerksamkeit in Bezug auf zahlreiche - nach Ansicht des Verfassers - zu Unrecht gering beachtete Probleme auf dem benannten Gebiet entstehen sollte. Nicht zuletzt könnte dies dazu beitragen, Politik-Formen neu zu durchdenken und wissenschaftliche Evaluationen der politischen Praxis ins Auge zu fassen.