Publication Ungleichheit / Soziale Kämpfe - Soziale Bewegungen / Organisierung - Partizipation / Bürgerrechte - International / Transnational - Westasien - Libanon / Syrien / Irak - Westasien im Fokus «Was machen wir jetzt?»

Zu den Massenprotesten im Libanon und im Irak

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Miriam Younes, Mohamad Blakah,

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November 2019

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Tahrir Square, 6. November 2019
Ob Bagdad oder Beirut: Die Leute auf der Straße demonstrieren gegen ähnliche Missstände und haben ähnliche Forderungen: gegen das herrschende politische System, gegen Konfessionalismus, Klientelismus und Korruption, gegen neoliberale und kapitalistische Politik, und damit füreine Neuerfindung von politischer Praxis und Gesellschaft in beiden Ländern. Tahrir-Platz, Bagdad, 6. November 2019, Sabah Arar / AFP

Seit dem 1. Oktober 2019 bis zum heutigen Tag finden im Libanon und im Irak Massenproteste statt. Beide Protestbewegungen brachen nicht nur nahezu gleichzeitig aus, die Leute auf der Straße demonstrieren auch gegen ähnliche Missstände und haben ähnliche Forderungen: gegen das herrschende politische System und gegen die herrschende politische Elite, gegen Konfessionalismus, Klientelismus und Korruption, gegen politische Gewalt und Willkürlichkeit, gegen neoliberale und kapitalistische Politik, gegen Althergebrachtes, und damit für eine Neuerfindung von politischer Praxis und System in beiden Ländern.

Die Revolution wird sich morgen schon, rasselnd wieder in die Höh‘ richten‘ und zu eurem Schrecken mit Posaunenklang verkünden: Ich war, ich bin, ich werde sein!“

Rosa Luxemburg

Im Folgenden sollen grundlegende Fragen zu beiden Protestbewegungen beantwortet werden: Warum brachen die Proteste aus? Wer protestiert? Was sind die Forderungen der Protestierenden? Und wie reagiert der jeweilige Staat auf die Proteste? Die Gleichzeitigkeit und die Ähnlichkeit in beiden Bewegungen lädt dazu ein, einerseits diese Ähnlichkeiten zu betonen und andererseits auch sie gegeneinander zu stellen. Abschließend wird auf Herausforderungen, Perspektiven und Anknüpfungspunkte beider Bewegungen eingegangen.

Miriam Younes ist Büroleiterin der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Beirut.

Mohammad Blakah ist politischer Aktivist und Wissenschaftler, der zu Politik und Gesellschaft vor allem in Syrien und Libanon arbeitet.

1. Warum brachen die Proteste in den beiden Ländern aus?

«Stürzt die Herrschaft der Banken»[1] – Zum Ausbruch der Proteste im Libanon

Die ersten Proteste im Libanon brachen am Abend des 17. Oktober 2019 aus, nachdem die Regierung angekündigt hatte, neue Steuern unter anderem auf Telefonie-Apps wie Whats App oder Viber zu erheben. Dieser Beschluss fällt in eine Reihe neuer Besteuerungen im Rahmen des Staatshaushaltes von 2019, dessen Hauptziel es ist, die libanesische Wirtschaft und den Haushalt zu konsolidieren. Im Jahre 2018 lag die Staatschuldenquote im Libanon bei 151 Prozent. Auf der CEDRE Konferenz im April 2018 versprochene Kredite von Weltbank, der «Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung» und Saudi-Arabien sind an strukturelle Reformen in der Wirtschaftspolitik und Kürzungen im Staatshaushalt gebunden. Das sogenannte «Austeritätsbudget», das verspätet im Juli 2019 verabschiedet wurde, kam diesen Auflagen jedoch nur halbherzig entgegen. Es besteht vor allem aus kurzfristigen Sparmaßnahmen, die mehrheitlich untere Klassen betreffen, wenig Willen zu strukturellen Reformen und nach wie vor aus deutlich höheren Staatsausgaben als -einnahmen. Hierzu gehört auch eine von der politischen Elite und der Zentralbank heruntergespielte Währungskrise, die sich in der Knappheit von US-Dollar-Bargeld auf dem Markt sowie einer schleichenden Aufhebung der seit 1997 bestehenden Koppelung von USD zur lokalen libanesischen Lira äußert. Der USD-Bargeldmangel führt wiederum zu einer Knappheit an Benzin und Weizen im Land, beides Produkte, die in USD eingekauft und in libanesischer Lira verkauft werden.

Die «Whats App-Steuer», das «Austeritätsbudget», die Währungskrise und die Reaktionen der libanesischen Bevölkerung in den letzten Monaten und am Abend des 17. Oktobers zeigen: Der libanesische Staat versucht nicht, dem Zusammenbruch der Wirtschaft entgegenzuwirken, er befindet sich längst auf dem Weg dorthin. Für große Teile der libanesischen Bevölkerung sind die Gründe hierfür nicht in dem halbherzigen und viel zu spät verabschiedeten Haushaltsgesetz oder einer kurzfristigen Wirtschaftspolitik der letzten Monate zu sehen, sondern in einer umfassenden und jahrzehntelangen Krise von politischem System und politischer Praxis im Libanon. Dementsprechend liegt die Lösung auch nicht in neuen Krediten von Weltbank oder anderen internationalen Akteuren oder von der Regierung beschlossene Sparmaßnahmen, sondern im Sturz der politischen Elite, des Systems und der politischen Praxis selber. Seit Jahrzehnten protegiert das libanesische System eine politische Elite, die sich bereits in Zeiten des Bürgerkrieges einen unrühmlichen Namen gemacht hat. Sie herrscht mit einer vertrackten und vertrauten Mischung aus Klientelismus, Konfessionalismus und Korruption sowie einer engen neoliberalen Vernetzung von Kapital und Politik. Folgen dieser Politik sind ein quasi nicht vorhandenes staatliches Sozialsystem, ein zunehmender Wegfall oder eine Privatisierung staatlicher Leistungen, steigende Lebenshaltungskosten, die Entstehung informeller Wirtschaftsstrukturen und eine anwachsende Verarmung und Arbeitslosigkeit vor allem der untersten Schichten der libanesischen Gesellschaft.[2] Es ist diese Politik, gegen die die Leute am 17. Oktober auf die Straße gingen, und es ist dieses System, dessen Sturz die Protestierenden bis zum heutigen Tag auf den Straßen fordern. Und es ist diese Herrschaft von Banken, Kapitalismus und korrupter politischer Elite, die die Menschen im Libanon seit dem 17. Oktober stürzen wollen.

Die Macht der totalen Verzweiflung – Zum Ausbruch der Proteste im Irak

Die Proteste im Irak brachen am Dienstag, den 1. Oktober in Bagdad aus. Die Wahl des Tages, ein Dienstag, weist bereits auf ein gemeinsames Charakteristikum einer Mehrheit der Protestierenden hin: Arbeitslosigkeit. Der Dienstag ist ein normaler Arbeitstag im Irak und wurde als Demonstrationstag dem sonst üblichen Freitag vorgezogen, um auf die hohe Arbeitslosigkeit vor allem unter jungen Leuten hinzuweisen. Die Demonstrationen weiteten sich schnell im ganzen Land, vor allem auf den Südirak, aus. Zudem schlossen sich auch einige Gewerkschaften und Syndikate den Protesten an.

Die Bewegung im Irak hat – ähnlich dem Libanon – ihre Vorgeschichte, die aus jahrelanger Mobilisierung gegen die politische und sozioökonomische Realität und Krise im Irak besteht. Die letzten großen Demonstrationen fanden im Sommer 2018 in der südirakischen Stadt Basra statt, ähnlich wie im Libanon gab es aber auch bereits 2015 und 2011 eine breite Protestbewegung in Bagdad und anderen irakischen Städten. Ähnlich dieser Bewegungen weist auch die momentane Protestbewegung auf eine umfassende und tief verwurzelte Krise des politischen Systems und der momentanen Regierung im Irak hin. Die offizielle Arbeitslosigkeit im Irak lag im Jahre 2018 bei 22 Prozent, wovon 16 Prozent unter 24 Jahren sind (einige Statistiken gehen aber auch von einer Jugendarbeitslosigkeit von 25 Prozent aus). Obwohl sich die Wirtschaft im letzten Jahr durch die hohen Ölpreise im leichten Aufstieg befand, so basiert sie vor allem aus Importen (insbesondere aus den Nachbarstaaten Iran und Türkei) sowie den Erträgen aus dem Ölsektor (die etwa 99 Prozent der Staatseinnahmen ausmachen). Durch einen durch Klientelismus und Korruption aufgeblähten Staatsapparat liegen die Staatsausgaben immer noch weit über den Staatseinnahmen. Die irakische Bevölkerung leidet nicht nur unter den wenigen Möglichkeiten, einen Arbeitsplatz jenseits des Staatsapparates zu finden, sondern auch unter den geringen Leistungen dieses Staates selber: Viele Iraker*innen beklagen die schwachen staatlichen Leistungen im Bereich Bildung, Gesundheit und Soziales und die wachsende Privatisierungstendenz in diesen Bereichen. In Zeiten von weit verbreiteter Armut und Arbeitslosigkeit bedeutet das Fehlen dieser Leistungen häufig der Absturz in weitere Verarmung und Perspektivlosigkeit.

Der irakische Staatsapparat zeichnet sich zudem durch hohe Korruption aus, nach dem Transparency International Corruption Perception Index rangierte das Land im Jahre 2018 auf Rang 168 von 180. Diese Korruption innerhalb des Systems zeichnet sich – ähnlich dem Libanon – unter anderem durch eine enge Verbindung von Kapital und politischer Macht aus. So nehmen staatliche Institutionen und Regierung bevorzugt Firmen unter Vertrag, die entweder Politiker*innen gehören oder ihnen nahestehen. Viele der hiervon gewonnenen Gelder fließen dann wieder in die Finanzierung von politischen Parteien.  

Die derzeitigen Proteste zeigen zudem ein weiteres Charakteristikum, das den irakischen Staat der letzten Jahre auszeichnete: eine Omnipräsenz von politischer Gewalt. Hierzu gehört zum einen die Gewalt staatlicher Sicherheitsinstitutionen wie Armee, Polizei und Geheimdienst, aber auch die Allgegenwärtigkeit der vielen Milizen, die einerseits sowohl in der Mehrheit von Iran finanziert und kontrolliert werden, andererseits aber auch eng verbunden sind mit Politiker*innen und Staatsapparat. Irakische Politiker*innen «halten» sich nicht nur in der Mehrheit ihre eigene Miliz, durch den Zusammenschluss unter den Volksmobilisierungseinheiten (al-Hashd al-sha‘bi) im Jahre 2014 sind diese Milizen gleichzeitig eng mit dem offiziellen Staatsapparat verbunden. Diese Verbindung zeigt sich beispielhaft bei jeglicher Form von politischer Mobilisierung oder Bürgerunruhen: Während die offiziellen Sicherheitskräfte die Protestierenden anfänglich meist durch Tränengas, Schüssen und Schlagstöcken vertreiben, ziehen sie sich häufig nach einer Zeit zurück und überlassen das Feld den Milizen, die ihrerseits wiederum mit äußerster Gewalt gegen Demonstrierende vorgehen und diese oft bis in ihre Häuser verfolgen. Die Gewalt der Milizen ist auch im täglichen Leben im Irak durch Einschüchterungen, Drohungen, Morden und Kidnapping präsent.

Die derzeitigen Proteste können auch als eine direkte Reaktion auf Versäumnisse und Fehler der seit einem Jahr im Amt tätigen Regierung unter Premierminister Adel Abdul Mahdi gesehen werden. Das Triumvirat aus Abdul Mahdi, Präsident Barham Salih und Parlamentssprecher Mohammed Al-Halboosi wird häufig als Technokratentrio bezeichnet, dem zugetraut wurde, den sozioökonomischen und politischen Problemen des Iraks durch eine Reformpolitik zu begegnen. Gerne wurde ihre Regierungszeit auch als die «letzte Chance» des irakischen Systems bezeichnet: die letzte Chance, den vielfältigen Problemen eines Post-Saddam, Post-Bürgerkrieg, und Post-IS Irak zu begegnen. Die derzeitigen Proteste und die Reaktion der Regierung auf die Proteste können deshalb nicht zuletzt als Scheitern dieser «letzten Chance» betrachtet werden.