20. September 2015, 21 Uhr: Wahlabend auf dem Panepistimio Platz in Athen. Die Freude ist groß bei allen, die sich Syriza, der Koalition der radikalen Linken, solidarisch verbunden fühlen. Auf der zentralen Siegesfeier der Syriza sind das rund 1.500 Menschen, die begeistert den unerwartet deutlichen Wahlsieg von Alexis Tsipras feiern. «Bella Ciao», die Hymne der italienischen PartisanInnen, erklingt, und kaum jemand unter den Anwesenden, der/die nicht mit einstimmt. Hier zweifelt niemand daran, dass Syriza nach wie vor für ein linkes, sozialistisches und solidarisches Projekt steht. Anders die Stimmung in Sichtweite vom Panepistimio Platz, im Parteizelt der Laiki Enotita («Volkseinheit»), wo sich rund 200 AnhängerInnen zur gemeinsamen Wahlauslese versammelt haben. Die Syriza-Abspaltung mit prominenten VetreterInnen wie dem ehemaligen Energieminister Panagiotis Lafazanis und der Parlamentspräsidentin Zoe Konstantopoulou, ist eigenständig zur Wahl angetreten, jedoch an der in Griechenland geltenden Drei-Prozent-Hürde gescheitert. Die alten ParteifreundInnen gelten hier als VerräterInnen an einst gemeinsam geteilten Zielen und Idealen. Auf den Bildungsreisen nach Athen, angeboten von den Rosa-Luxemburg- Landesstiftungen Hamburg (vom 20.–26. September) sowie Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Bayern (vom 4.–10. Oktober) war der Disput der griechischen Linken nicht nur am Wahlabend, sondern auch während der Programmwochen immer wieder zu erleben.
Während der zahlreichen Gespräche mit VertreterInnen von Syriza, mit Abgeordneten des griechischen Parlaments, JournalistInnen und Aktiven aus Initiativen und sozialen Zentren lernten die je 20 TeilnehmerInnen der beiden Reisegruppen unterschiedliche Bewertungen der aktuellen Situation in Griechenland kennen. Die Situation ist paradox: Den Wahlsieg hat eine Linksregierung errungen, die gezwungen ist, den strengen Austeritätsvorgaben ihrer Gläubiger zu folgen, und dennoch beansprucht, sich den verheerenden politischen, sozialen und kulturellen Folgen von nunmehr fünf Jahren Spardiktat entgegenzustellen. Eindringlich schilderte Ioanna Lymperopoulou vom selbstverwalteten sozialen Gesundheitszentrum in Helleniko die fatalen Folgen der vorherrschenden Sparpolitik. Wir bekamen einen Eindruck von der beeindruckenden Professionalität, mit der die mehr als 200 ehrenamtlichen die medizinische Grundversorgung für all jene Menschen gewähren, die im Zuge der Sparprogramme ohne Krankenversicherung überleben müssen. Nach nunmehr fünf Jahren intensiver Arbeit sei die Enttäuschung und Frustration bei vielen engagierten HelferInnen groß, dass auch unter Tsipras keine Wende zum Besseren erfahrbar oder zu mindestens absehbar sei, so Ioanna Lymperopoulou. Auch die AktivistInnen von Diktio, dem Netzwerk für politische und soziale Rechte, sind enttäuscht von Syriza. Die außerparlamentarischen AktivistInnen beklagen weniger die erpresste Zustimmung zum dritten Memorandum als den inneren Zustand der Partei. Syriza sei zusehends zu einem «Tsipras-Wahlverein» geworden, so die Kritik. Die Absage des Parteitags durch Alexis Tsipras kurz vor den Parlamentswahlen (und gegen die Beschlüsse der Parteigremien) war für die Aktiven von Diktio der Anlass, ihre Mitarbeit im Syriza- Zentralkomitee aufzukündigen. Es sind diese Enttäuschungen und Rückzüge, die das Projekt einer pluralen gesellschaftlichen Linken, für das Syriza steht, derzeit gefährden. Die Zerrissenheit nicht zu leugnen, die kritische Entwicklung zu benennen, aber auch keinen falschen Dichotomien von «Verrätern» auf der einen und «aufrechten Linken» auf der anderen Seite anzuhängen – dafür plädierten die Syriza-Vertreter Theodoros Paraskevopolus (Koordinator der Parlamentsfraktion) und Giorgos Chondros (Umweltpolitischer Sprecher und Mitglied im Zentralkomitee). Jetzt müssten die strategische Niederlage der Tsipras-Regierung, ihre Fehleinschätzungen der Kräfteverhältnisse in der EU und ihre Fehler im Regierungshandeln auf europäischer Ebene analysiert werden. Syriza müsse für eine solche kritische Diskussion wieder der zentrale Ort werden, so Chondros. Ausgangspunkt sei eine «Diversität», deren Zusammenhalt sich politisch, nicht ideologisch begründet. Weiter trafen wir den Redakteur des öffentlich-rechtlichen Radiound Fernsehsenders ERT, Nikos Tsimpidas, der von der zwei Jahre anhaltenden Besetzung der Sendeanstalt berichtete. Als Reaktion auf die Schließung des Senders im Juni 2013 durch die konservative Samaras-Regierung nahmen rund 600 JournalistInnen den Sendebetrieb in die eigenen Hände. Nach der polizeilichen Räumung auf Anordnung von Samaras ermöglichte die Syriza geführte Regierung im Juni dann die Wiedereröffnung.
Ein Besuch des griechischen Parlaments und der Austausch mit Syriza-Ageordneten gehörten ebenso zum Programm der beiden Bildungsreisen wie Treffen mit VertreterInnen des Solidaritätsnetzwerks Solidarity4all, einer Nachbarschaftsinitiative im Athener Stadteil Kypseli, der Straßenzeitung Shedia sowie ein Infogespräch mit dem Journalisten Dimitris Psarras über die griechische Nazipartei Chrysi Avgi («Goldene Morgenröte») bzw. die Initiative Golden Dawn Watch, die den aktuellen Prozess gegen die Partei kritisch begleitet. Den Abschluss der beiden Wochen bildeten Tagesfahrten nach Distomo, an den Ort des Massakers deutscher Wehmachtssoldaten an 218 DorfbewohnerInnen im Jahr 1944. Dort besuchten die TeilnehmerInnen das Museums und die Gedenkstätte und sprachen mit Mitgliedern der antifaschistischen Bürgerversammlung von Distomo. Ideale Voraussetzungen für unsere Seminareinheiten fanden wir in den Räumlichkeiten des Athener Regionalbüros der Rosa-Luxemburg- Stiftung. Die Zusammenarbeit mit der Büroleiterin Ioanna Meitani hat sich einmal mehr bewährt.