Gemessen am Bevölkerungsanteil waren Jüdinnen und Juden im ausgehenden 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überproportional in den revolutionären und reformerischen Bewegungen sowohl Ost- und Westeuropas als auch der Vereinigten Staaten von Amerika, Kanadas und Südafrikas aktiv. Die jüdische Herkunft spielte für sie zumeist jedoch weiterhin eine untergeordnete oder keine Rolle. Als Sozialist*innen oder Kommunist*innen verstanden sie sich der Sache nach als «Weltbürger*innen» beziehungsweise Internationalist*innen, sie waren vielmehr angetreten, für die Befreiung aller Menschen von wirtschaftlicher, politischer und geistiger Unterdrückung zu kämpfen.
«Jüdinnen und Juden in der internationalen Linken» ist ein vierbändiges Buchprojekt in der Reihe «luxemburg beiträge»:
- Band 1: «Die jüdische mit der allgemeinen proletarischen Bewegung zu vereinen»
- Band 2: «Wenn du ausgegrenzt wirst, gehst du zu anderen Ausgegrenzten»
- Band 3: Die Arbeiter*innenbewegung als Emanzipationsraum
- Band 4: «Zog nit keyn mol, az du geyst dem letstn veg. Mir zaynen do!»
Wer hingegen heute in Internetsuchmaschinen die Begriffskombination «Linke» und «Juden» eingibt, stößt in der Mehrzahl auf Ergebnisse zu zwei umstrittenen Themen: auf – realen wie vermeintlichen – linken Antisemitismus und linke Zionismus- und Israelkritik. Zweifelsohne handelt es sich dabei um wichtige Fragestellungen und teilweise reale Probleme. Das diesen zugrunde liegende zentrale Problem ist ein Ende der Allianz aus Judentum und Arbeiterbewegung um 1970. Ab 1967 dominierte eine antikoloniale, antiimperialistische Lesart die weltweite Linke. Ab 1977 ging die Hegemonie in Israel an die Rechte um die Likud-Partei über. Der soziale und ökonomische Aufstieg vieler, wenn auch keineswegs aller Jüdinnen und Juden in den meisten westlichen Ländern, spielte ebenfalls eine Rolle. Die Geschichte der emanzipatorischen Allianz gerät in Vergessenheit, im Judentum wie in der Linken. In den USA hingegen wählen mehr als zwei Drittel aller Jüdinnen und Juden stets die Demokratische Partei, in Großbritannien ist das Verhältnis umgekehrt – dort erhalten die konservativen Tories den größten Anteil jüdischer Stimmen.
Die Geschichte von Jüdinnen und Juden in Europa, den USA, Israel/Palästina, Südafrika und allen anderen Ländern ist geprägt von Bedrohungen und Antisemitismuserfahrungen, aber auch von Emanzipationskämpfen, breitem politischen Engagement und einer Verbindung mit progressiv-liberalen wie sozialistischen Bewegungen. Diese Facette linker und jüdischer Geschichte wollen wir in diesem Band beleuchten.
Inhalt:
- Die Linke, Jüdinnen und Juden und die «jüdische Frage»
Eine Einführung - Gertrud Pickhan: National-kulturelle Autonomie, Jiddischkeit und Internationalismus
Der Allgemeine Jüdische Arbeiterbund «Bund» im östlichen Europa - Angelika Timm: Wider den Strom!
Die zionistische Linke: europäische Wurzeln und israelische Gegenwart - Dana Mills: Rosa Luxemburg
Die Frau, die im Herzen der Revolution gelebt hat - Hanno Plass: Jüdische Erfahrungen, universelle Antworten
Linke Jüdinnen und Juden in Südafrika - Florian Weis: Ein sozialistisches Neues Jerusalem?
Jüdinnen und Juden in der britischen Arbeiterbewegung - Axel Fair-Schulz: Jürgen Kuczynski und die jüdische Moderne
Ein deutsch-jüdischer Kommunist und Wissenschaftler in verschiedenen Epochen - John S. Will: Jakob Moneta – jüdischer Internationalist und sozialistischer Gewerkschafter
Ein Leben im «kurzen 20. Jahrhundert» - Mario Keßler: Theodor Bergmann (1916–2017)
Ein jüdischer Ketzer im Kommunismus - Zarin Aschrafi: Deutsch-jüdische Scheidungen
Das Wirken linker Jüdinnen und Juden aus Frankfurt am Main in den 1970er und 1980er Jahren