Publication Arbeit / Gewerkschaften - Kämpfe um Arbeitszeit Die Vier-Tage-Woche im Vereinigten Königreich

Die Ergebnisse des bislang größten Pilotprojekts weltweit

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Philipp Frey,

Published

September 2023

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Nach Jahrzehnten weitgehenden Stillstands auf dem Gebiet der Arbeitszeitpolitik hat das Thema im europäischen Ausland in den letzten Jahren wieder deutlich an Fahrt aufgenommen. Von Island über Großbritannien bis Spanien experimentieren immer mehr Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und öffentliche Dienststellen erfolgreich mit der Vier-Tage-Woche. Der bislang größte derartige Feldversuch fand im vergangenen Jahr in Großbritannien statt. Über 60 Unternehmen mit insgesamt rund 2.900 Beschäftigten erprobten von Juni bis Dezember 2022 eine Vier-Tage-Woche in Form des 100-80-100-Modells: 100 Prozent Bezahlung, 80 Prozent Arbeitszeit, 100 Prozent Leistung. Die wissenschaftliche Auswertung dieses Versuchs, die hiermit in deutschsprachiger Übersetzung vorliegt, zeigt den durchschlagenden Erfolg.

92 Prozent der befragten Unternehmen gaben an, die Vier-Tage-Woche fortführen zu wollen, 96 Prozent der Beschäftigten befürworteten das ebenfalls. Angstzustände, Müdigkeit, Schlafprobleme und andere Burnout- Symptome gingen zurück, eine deutliche Mehrheit berichtete von einer besseren Work-Life-Balance sowie von positiven Auswirkungen auf ihr Familien- und Sozialleben.

Philipp Frey ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsgruppe «Digitale Technologien und gesellschaftlicher Wandel» am Institut für Technikfolgenabschätzung und Systemanalyse (ITAS) in Karlsruhe, Research Affiliate von Autonomy sowie Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung Baden-Württemberg.

Aber auch wichtige Unternehmenskennzahlen veranschaulichen die Vorteile kürzerer Arbeitszeiten. So ist der Umsatz während des Versuchszeitraums im Großen und Ganzen gleich geblieben bzw. nach Unternehmensgröße gewichtet sogar um durchschnittlich 1,4 Prozent angestiegen – die Einführung einer Vier-Tage-Woche scheint also nicht den Unternehmenserfolg beschränkt zu haben, im Gegenteil: Die Autor*innen der vorliegenden Studie konstatieren angesichts eines leicht gestiegenen Umsatzes bei reduzierter Arbeitszeit sogar deutliche Produktivitätssteigerungen. Die Unternehmen profitierten zudem von steigenden Bewerber*innenzahlen und von einer deutlich höheren Mitarbeiter*innenbindung – die Anzahl der Kündigungen ging während des Experiments im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 57 Prozent zurück. Auch wirkten sich die längeren Erholungszeiten und das niedrigere Stresslevel günstig auf die Krankenstände aus. Die Krankheitstage gingen um zwei Drittel zurück.

Dieses rundweg positive Gesamtergebnis ist nicht zuletzt auf eine umfangreiche zweimonatige Vorbereitungsphase zurückzuführen, in der die teilnehmenden Unternehmen ihre Umsetzungsstrategien für eine Vier-Tage-Woche entwickelten. Dabei profitierten sie von der wissenschaftlichen Begleitung durch Forscher*innen des Boston College, der University of Cambridge und des Thinktanks Autonomy, die bei der Strategieentwicklung halfen und Erfahrungswerte aus anderen Unternehmen einbrachten, die die Umstellung auf kürzere Arbeitszeiten bereits vollzogen hatten.

Von zentraler Bedeutung war aber auch die Innovationskraft der Belegschaften selbst. Wie die Geschäftsführerin einer Wohnungsbaugesellschaft mit einer rund 250-köpfigen Belegschaft im Rahmen eines Forschungsinterviews bemerkte, sind alle Beschäftigten jeweils Expert*innen ihres eigenen Arbeitsalltags. Dieser inklusive Ansatz des Feldversuchs dürfte ein wesentlicher Faktor für die gestiegene Zufriedenheit der Beschäftigten bei gleichzeitig zunehmender Produktivität gewesen sein. Zudem scheint diese Herangehensweise auch zum Abbau von Ängsten vor einer Arbeitsverdichtung als möglicher Folge einer Vier-Tage-Woche beigetragen zu haben. Statt Rationalisierungsmaßnahmen von oben verordnet zu bekommen, wurden die Beschäftigten selbst zur treibenden Kraft hinter Verbesserungen in der Arbeitsorganisation. Die meisten Unternehmen und Organisationen stellten dabei ihre Arbeitsabläufe ganz grundsätzlich zur Disposition – unnötige Meetings wurden abgeschafft und die verbleibenden Treffen deutlich verkürzt, es wurde in neue Technologien investiert und Zeit innerhalb des Arbeitstags geschaffen, in der ungestört von Unterbrechungen konzentriert gearbeitet werden kann. Die Einführung einer Vier-Tage-Woche wirkte so als eine Art Katalysator für organisatorische und technische Weiterentwicklungen und setzte das ungeheure Innovationspotenzial der Beschäftigten frei.