Der von Knut Nevermann herausgegebene Band basiert auf Vorträgen einer Veranstaltungsreihe, die mit dem Titel «Studentenbewegung – 60 Jahre danach» 2017 an der Freien Universität (FU) Berlin stattfand. Nevermann saß 1968 selbst als AStA-Vorsitzender der FU auf dem Podium einer Diskussionsveranstaltung an der TU Berlin, wie uns das Titelfoto zeigt. Seine Vita ist ein Beleg für den langen Marsch der 68er durch die Institutionen, die bei Nevermann als Staatssekretär für Wissenschaft und Forschung in der Berliner Senatsverwaltung endet.
Das Anliegen der Veranstaltungsreihe und damit der Publikation war es u.a. folgenden Fragen nachzugehen: Welches waren die Themen und Motive, die damals eine Rolle spielten? Was von dem, was damals kritisiert wurde, ist auch heute noch plausibel? Welche Wirkungen lassen sich mittel- und längerfristig feststellen? Damit sind die Wirkungen auf höchst unterschiedliche Akteure und Institutionen wie Hochschule, Parteien, Verbände, Öffentlichkeit etc. gemeint.
Es handelt sich natürlich nicht um die erste und umfassendste der Analysen, die seit 1968 im Zehnjahresrhythmus regelmäßig erscheinen, so auch im Jahr 2018. Dafür haben wir es mit einer Publikation zu tun, die namhafte Akteure und Analytiker_innen zusammenführt (u.a. Hajo Funke, Wolfgang Kraushaar, Birgit Mahnkopf, Gesine Schwan) und relativ viele Facetten aufgreift, ohne allerdings zu neuen oder überraschenden Erkenntnissen zu gelangen.
Aufgegriffen wird z.B. der Aspekt des Internationalismus, einige Aspekte der «kulturellen Revolution», Umbrüche in der Literatur, genauso wie die Kritik der «bürgerlichen» Wissenschaft und der Entwurf der Kritischen Universität.
Einer der schwächsten und ärgerlichsten der dreizehn Beiträge ist der des selbsternannten 68er-Chef-Deuters Wolfgang Kraushaar, der unter dem Titel «Die Entdeckung der Dritten Welt» einen Exkurs über Lumumba, Vietnam bis zu SDS–Gruppenreisen nach Kuba unternimmt. Dies tut er allerdings weitgehend ohne den Bogen zu den deutschen 68er zu ziehen, dabei ist der Internationalismus aus der Retrospektive sicherlich ein prägender Bestandteil der Studentenbewegung, mehr als die Gewalt und Terrorismusfrage.
Der von Ingrid Gilcher-Holtey eingeführte Begriff der «Bewusstseinsrevolution» skizziert die Generationserfahrung der 68er wohl am besten. Gemeint ist damit eine Bewusstseinsrevolution nach links. Gilcher-Holtey arbeitet dies in ihrem Beitrag «1968 – Eine Wahrnehmungsrevolution», anhand eines sehr markanten deutsch-französischen Vergleichs des Jahres 1968 und seiner Folgen sehr gut auf.
Insgesamt ist der Sammelband nicht besonders spektakulär, dafür aber solide gearbeitet. Er überzeugt durch die Vielfalt der Perspektiven und durch die Auswahl der Autorinnen und Autoren, bei denen es sich teilweise um Zeitzeug_innen, teilweise um AnalytikerInnen der Studentenbewegung handelt.
Herbert Klemisch
Knut Nevermann (Hg.) ; Die 68er. Von der Selbstpolitisierung der Studentenbewegung zum Wandel der Öffentlichkeit; VSA Verlag, Hamburg 2018, 248 Seiten, Print: 19,80 EUR