Man könnte meinen, langsam hätten nun fast alle Städte ihre Ausstellung und/oder Publikation zu 1968 gemacht bzw. veröffentlicht. Aktuellstes Beispiel ist nun Köln, wo das Historische Institut der Universität in Kooperation mit dem Kölnischen Stadtmuseum eine Ausstellung produziert hat. Diese offizielle und anscheinend personell gut ausgestattete Kooperation hat auch ein umfangreiches Buch zum Ergebnis, das die Stadtgeschichte mit den 1960er Jahren, mit »68« und den Folgen verwebt. Es enthält 45 Beiträge, die sich mit kürzeren, persönlichen Statements von ZeitzeugInnen und Protagonisten abwechseln.
Zu Beginn werden vor allem die Rahmenbedingungen der beginnenden 1960er Jahre skizziert. Köln hat 1960 und 1970 um die 800.000 EinwohnerInnen und ist die viertgrößte Stadt Deutschlands. Wirtschaftlich scheint es in der BRD zumindest bis 1966 nur noch aufwärts zu gehen: Von 1950 bis 1973 wächst das Bruttosozialprodukt um 4,9 Prozent – und das in jedem (!) dieser Jahre (im Durchschnitt). Es wird mehr als deutlich, dass Ungehorsam in diesen Jahren ein politisches und kulturelles Fremdwort ist. Die heterosexuelle Kleinfamilie ist die gesellschaftliche Norm, an der sich das ganze Leben, vom Wohnen über den Beruf ausrichtet. Köln ist in diesem Jahrzehnt bereits stärker als andere Städte von Migration geprägt, was sich aber im Buch jenseits des ikonischen wilden Streiks bei FORD 1973 nicht wirklich niederschlägt. 1970 gibt es allein an der Universität, deren ASTA außer einer kurzen Periode 1968, wie jene an vielen anderen Universitäten in Nordrhein-Westfalen, stets rechts dominiert war, 20.000 Studierende. Beindruckend sind Text und Bilddokumente zum Begräbnis von Konrad Adenauer im April 1967, die in ihrer militaristischen Inszenierung eher an die Kaiser-, wenn nicht NS-Zeit erinnern. Dass diese das bis anhin größte im Fernsehen übertragende Ereignis war, lässt einen Vorgeschmack auf die Bedeutung der Medien in den künftigen Jahren erahnen.
Der Band fächert dann die ganze Breite der Wirkung von 1968 auf: In der Kunst, dem Theater, der Mode, Kabarett und Musik über die Stadtplanung und die ersten Bürgerinitiativen, die sich gegen sie organisieren, bis hin zum gesamten Bildungs- und Erziehungsbereich von Schulen und Kindergärten. Der erste »Kinderladen« wurde in Köln bereits 1965 gegründet. Auch andere Institutionen bleiben nicht unverändert, selbst die evangelische und die in Köln sehr starke katholische Kirche geraten - von innen und außen - unter Druck. Der erste »Dritte Welt Laden« wird 1976 gegründet, dem Jahr, in dem auch die Welle an Hausbesetzungen beginnt, die sich in Köln lange hinziehen wird. Thema sind selbstverständlich auch die Frauen-, Lesben- und Schwulenbewegung, sowohl in klassisch-politischer als auch in subkultureller Hinsicht.
Mit Bewertungen halten sich die Artikel zurück, diese finden sich eher in den persönlichen Statements. Hier ist der Tenor, dass für die allermeisten »1968« eine persönliche Befreiung gewesen sei. Ziele und Wirkung seien – im Rückblick - auseinander gefallen. Politisch sei zwar sehr viel gescheitert, aber immerhin habe es z.B. einen erweiterten Politikbegriff als Folge gegeben, der den Untertanengeist der 1950er und 1960 überwunden habe. Köln war sicher keine »politische Provinz«, aber es ist trotz seiner Größe und Personen wie Heinrich Böll, Günter Wallraff, Dorothee Sölle, Carola Möller und Rolf Dieter Brinkmann kein Zentrum von 1968, auch wenn sich in den 1970ern (und 1980ern) eine beträchtliche alternative und linke Szene entwickeln sollte.
Das Buch ist im Verhältnis zur ansprechenden Illustrierung und angesichts von 388 Abbildungen sehr preiswert. Es enthält im Serviceteil ein Sachregister und ein mit den Lebensdaten der Personen versehenes Personenverzeichnis sowie biografische Skizzen zu den ZeitzeugInnen aus den persönlichen Statements.
Die Ausstellung in Köln ist noch bis 24. Februar 2019 hierzu sehen. Sonderseite https://koeln68.de/.
Michaela Keim/Stefan Lewejohann (Hrsg.): Köln 68! Protest. Pop. Provokation; Nünnerich-Asmus Verlag, Mainz 2018, 496 Seiten, 29,90 EUR