Interview | Parteien / Wahlanalysen - Partizipation / Bürgerrechte - Brasilien / Paraguay «Wahlsieg ist kein Blankoscheck»

Über die aktuelle politische Situation in Brasilien und Aussichten für die Präsidentschaftswahlen 2022

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Guilherme Boulos Foto: privat

Guilherme Boulos ist Sprecher der Bewegung der wohnungslosen Arbeitenden (MTST) und kandidierte für die linkssozialistische «Partei Sozialismus und Freiheit» (PSOL) zuletzt im November 2020 als Bürgermeister von São Paulo. Mit gut 40 Prozent unterlag er gegen den konservativen Amtsinhaber. Christiane Gomes, Jorge Pereira und Torge Loeding aus dem RLS-Büro in São Paulo sprachen mit dem charismatischen Politiker über die aktuelle politische Situation in Brasilien und die Aussichten für die Präsidentschaftswahlen im nächsten Jahr.

Als führendes Mitglied einer sozialen Bewegung setzen Sie vor allem auf die Mobilisierung von unten, um so soziale Veränderungen anzustoßen. Trotz der Pandemie haben Teile der Linken wieder zu Straßenaktionen gegen Bolsonaro mobilisiert. Was hat das bisher gebracht?

Ohne die Straße und ohne Druck der Basis gibt es keinen Wandel. Das ist ein historischer Fakt. Die Pandemie – die größte Gesundheitskrise der letzten einhundert Jahre und die größte, die unser Land je erlebt hat – erfordert von uns allen verantwortliches Handeln und Urteilsvermögen, aber die Demonstrationen haben gezeigt, dass Protest möglich ist, wenn auf die Hygienebestimmungen geachtet wird und alle Masken tragen.

Einfach passiv auf das Wahljahr 2022 zu warten, das geht nicht. Der Preis, den wir an Menschenleben zahlen, ist unkalkulierbar.

Das polarisierende Szenarios zwischen dem ehemaligen Präsidenten Lula und dem amtierenden Präsidenten Bolsonaro spitzt sich zu: Während Wahlumfragen den Kandidaten der Arbeiter*innenpartei PT vorne sehen, arbeiten rechte Teile der Gesellschaft auf ein Amtsenthebungsverfahren hin. Sie sehen darin den besten Weg für einen eigenen Kandidaten, der bessere Wahlchancen als Bolsonaro hätte. Wie sollte sich die Linke angesichts dessen positionieren?

Jetzt ist nicht der Zeitpunkt, um Wahlarithmetik zu betreiben. Im Moment geht es darum, Leben zu retten. Es ist zivilisatorische Prämisse, diese völkermörderische Regierung zu stoppen, die immer die Gefährlichkeit der Pandemie heruntergespielt hat und die deutlich darauf hingearbeitet hat, den Prozess der Impfungen zu boykottieren. Dies ist der Kern der Amtsenthebung Bolsonaros. Die Rechte täuscht sich, wenn sie meint, die Amtsenthebung Bolsonaros sei ein Steigbügel zur Macht. Sie folgen dem gleichen Drehbuch wie 2016, als sie geglaubt haben, der Sturz der Regierung von Dilma Rousseff würde den Wahlsieg 2018 garantieren. Das lief auf Bolsonaro hinaus und auf das Desaster, das wir heute erleben. Und jetzt erliegen sie dem gleichen Trugschluss. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung mit Bolsonaro reicht weit über die Pandemie hinaus. Da geht es um das Gesundheitswesen, aber auch um die Wirtschaft. Da geht es um eine lebensverachtende Einstellung, aber eben auch um fehlende Arbeit, um Hunger und um die völlige Abwesenheit jeglicher Zukunftsperspektiven. Bolsonaro wurde mit Unterstützung der Rechten und mit Segen des Marktes gewählt. Jetzt zu behaupten, sie seien dafür nicht verantwortlich oder sie seien nicht Teil dieser Geschichte, das geht gar nicht! Es muss deutlich gesagt werden, dass die Agenda von Wirtschaftsminister Paulo Guedes der Konsumwunsch der Rechten ist. Das ist das Einzige, was die Rechte als Lösung anzubieten weiß. Und die Leute wollen das nicht. Die Rechte will sich um jeden Preis von Bolsonaro abgrenzen, weil dieser toxisch geworden ist. Aber die Leute wissen genau, wie sehr ihr Leben sich in den vergangenen fünf Jahren, seit der Regierung Temer, verschlechtert hat.

Brasilien wurde zwischen 2003 und 2016 von der Arbeiter*innenpartei PT regiert. Der Großteil der Organisationen der Linken ging jedoch nicht gestärkt daraus hervor, weder was ihre Repräsentation über Parteien, noch ihre Präsenz in der Zivilgesellschaft, sozialen Bewegungen, Gewerkschaften etc. anging. Welche Debatten müsste die Linke führen, um nacheinem möglichen Sieg bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2022 ein anderes Ergebnis zu erreichen?

Der erste Schritt wäre, eine Allianz und Einheit in unserem politischen Feld zu schaffen, um den Sieg über den Bolsonarismus und die Wirtschaftsagenda des ultra-neoliberalen Wirtschaftsministers Paulo Guedes sicherzustellen. Diese Einheit jedoch bedarf eines Regierungsprogramms, das die Mehrheit der Bevölkerung ins Zentrum ihrer Prioritäten rückt. Dazu braucht es ein umfassendes Verständnis, dass die Zeiten andere sind. Das Brasilien von 2023 wird sehr anders sein als das Brasilien von 2003. Und dabei beziehe ich mich nicht nur auf die Rückschritte, die der wirtschaftlichen und politischen Agenda von Temer und Bolsonaro geschuldet sind. Die Weltkonjunktur hat sich gewandelt, dies vor allem nach der schweren Krise, dem neoliberalen Kollaps von 2008. Dies erfordert Entscheidungen, die einen realen Effekt bei der Bekämpfung der Ungleichheit und des Hungers erzielen und die Arbeitsplätze und Einkommen schaffen. Dazu braucht es eines Zukunftspaktes für ein neues Modell wirtschaftlicher Entwicklung, mittel- und langfristig gesehen. Man muss an die Probleme rangehen, die bislang unter den Teppich gekehrt wurden. Eines davon ist das Steuer- und Abgabensystem, das pervers und extrem ungerecht für all jene ist, die wenig verdienen, und das historisch immer nur dazu gedient hat, den Unterschied zwischen der Basis und der Spitze der sozialen Pyramide der Gesellschaft zu stärken.

Eine der Schwächen der PT-Regierungen war die fehlende Kongressmehrheit, im Unterschied zu z.B. in Bolivien oder in Venezuela. Woher kommt diese Schwierigkeit, Mehrheiten im Kongress zu erzielen und wie kann das geändert werden?

Es gilt zunächst darauf hinzuarbeiten, dass Abgeordnete gewählt werden, die das ganze linke Spektrum stärker repräsentieren. Es herrscht heute in der brasilianischen Gesellschaft ein Gefühl des Verlassen-Seins vor. Einerseits ist dies dem kriminellen Krisenmanagement von Bolsonaro während der Pandemie geschuldet, andererseits liegt das an der umgreifenden Hoffnungslosigkeit, die die gegen die Bevölkerung gerichtete Wirtschaftspolitik des Wirtschaftsministeriums geschaffen hat. Aber genau dies eröffnet Räume für die Linke, ihr Gewicht im Kongress zu vergrößern. Obwohl die Wahl 2018 verloren wurde, hat die Linke eine relevante repräsentative Vertretung im Kongress erreicht. Die PSOL zum Beispiel hat ihre Fraktion verdoppelt. Und wir arbeiten daran, diese im Jahr 2022 noch weiter auszubauen.

Wir müssen die Regierbarkeit aus der Perspektive sozialer Teilhabe betrachten. Ein Wahlsieg darf nicht als Blankocheck verstanden werden, und es kann auch nicht sein, dass das Volk nur alle vier Jahre zum Drücken eines Schalters an die Wahlurne gerufen wird. Die Beteiligung der Menschen muss eine Voraussetzung sein. Und dies bedeutet nicht, dass dafür extra das Rad neu erfunden werden müsste. Dazu reicht es, denjenigen Ländern zu folgen, die die Gesellschaft in die Entscheidungsfindungen eingebunden haben. Im Übrigen gibt es auch hier in Brasilien diesbezügliche Wege, die beschritten wurden, zum Beispiel die partizipativen Haushalte. (In den 1980er Jahren wurde das Instrument des «partizipativen Haushalts» als eine direkte Art kommunaler Bürger*innenbeteiligung in Brasilien eingeführt. Die Bevölkerung kann demnach Teile frei verwendbarerer Haushaltsmittel diskutieren und gemeinsam entscheiden. Die Verständigung dazu zwischen den Bürger*innen findet in einem deliberativen Prozess statt, den die Verwaltung begleitet.).

Letztlich muss man auch auf die Exekutive selbst schauen, nicht nur auf die Legislative. Eine Teilschuld an der mangelnden Regierbarkeit trägt die Logik, Ministerien aus korporativen Interessen heraus zu führen.

Es kann nicht sein, dass zum Beispiel Lobbyisten für Krankenversicherungen das Gesundheitsministerium leiten. Und kein Bankier die Zentralbank.

Aber auch die Erfahrungen mit den progressiven Regierungen in Lateinamerika in den vergangenen zwei Jahrzehnten müssen kritisch aufgearbeitet werden, damit sich Fehler nicht wiederholen. Selbst wenn Bolsonaro des Amtes enthoben oder abgewählt werden würde, der Bolsonarismus – also eine organisierte und hasserfüllte extreme Rechte – wird bleiben. Welche Konsequenzen zeitigt dies für neue Lesarten, die die Linke machen müssen wird, um mit dieser Realität umzugehen? 

Die erste Frage ist die, dass der «Mythos» [Bolsonaros] zerstört werden muss. Bolsonaro muss aufgehalten werden und er muss sich für die von ihm begangenen Verbrechen verantworten. Sowohl vor der brasilianischen Justiz als auch vor internationalen Gerichtshöfen. Ich sage dies, weil der Bolsonarismus qua seiner Natur die Niederlage nicht eingestehen wird. Bolsonaro wird versuchen, in die Fußstapfen eines Trump in den USA zu treten. Aber er ist gefährlicher als Trump. Er wird versuchen, Chaos zu stiften und seiner Verachtung für die Institutionen und für die Demokratie freien Lauf lassen. Er wird das Gemisch für einen perfekten Putsch brauen. Wir müssen also Druck machen, dass er gestützt wird und sich vor Gericht verantworten muss. Und das koppeln mit dem Kampf um die öffentliche Meinung in der Gesellschaft und in den sozialen Medien. Die Korruptionsfälle in seiner Regierung, zusammen mit seiner kompletten Auslieferung an den Centrão, dies schafft einen tiefen Riss bei seiner bisher treuen Basis und unterminiert sein Anti-System-Narrativ.

Die Schwarze Bevölkerungsmehrheit Brasiliens tritt mehr und mehr sichtbar auf und fordert mehr politische Teilhabe. Die linken Parteien haben darauf in verschiedenem Maße reagiert. Wird dieses Thema in der Wahlkampagne 2022 mehr Aufmerksamkeit erlangen?

Brasilien hat eine jahrhundertealte Schuld, die nie vollkommen angegangen wurde, und zwar die Bekämpfung des strukturellen Rassismus. Dieser durchzieht die Wirtschaft, die Politik und die sozialen Vorstellungswelten.

Ein junger Schwarzer, der nachts auf der Straße läuft, wird wie ein Bandit behandelt. Ein Schwarzer im Luxuswagen wie ein Verbrecher. Der strukturelle Rassismus schlägt sich in Zahlen nieder. Jetzt während der Pandemie ist die Sterberate bei Schwarzen Personen, die in den Vorstädten wohnen am größten. Die inhaftierte Bevölkerung ist in ihrer Mehrzahl Schwarz. Und fast 80 Prozent der von Polizeikräften Getöteten sind Schwarz. Diese Aspekte des brasilianischen Rassismus haben in der öffentlichen Debatte mehr und mehr Gewicht bekommen und es wird essentiell wichtig sein, darüber bei den Wahlen nächstes Jahr zu reflektieren, nicht nur in Form einer Anklage, aber eben als konkretes politisches Projekt, mit Vorschlägen für Politikmaßnahmen und mit einem dafür einzusetzenden Haushaltsposten.

Das Militär übt in der Regierung eine zentrale Rolle aus und bricht damit mit der bisherigen Praxis seit 1988, sich aus der Politik herauszuhalten. Die jüngsten Maßnahmen Bolsonaros deuten auf eine weiter zunehmende Militarisierung der Politik hin. Wie sollte die Linke die Frage von Militär und Polizei behandeln?

Die Streitkräfte haben verfassungsgemäß ihre institutionelle Rolle im Staat. Bolsonaro versucht, die Grenzen zwischen Staat und Regierung zu verwässern. Er tut dies aus Opportunismus und aus umstürzlerischem Instinkt. Man muss aber auch klar sehen, dass Bolsonaro seit seiner Fallschirmspringerzeit bei den höheren Militärrängen immer als persona non-grata angesehen wurde. Er geht in die Geschichte als einziger Präsident nach der Redemokratisierung ein, der mit einer Amtshandlung drei Oberbefehlshaber der Streitkräfte und einen Verteidigungsminister auf einmal austauschte. Dies war ein klares Signal dafür, dass sich zumindest ein Teil der Militärführung mit dem Wahnsinn Bolsonaros nicht gemein machen will. Gegenwärtig gibt es einen Disput, und Bolsonaro seinerseits versucht Teile des Militärs, der Militärpolizei und seiner Lieblingsmilizen zu mobilisieren. Es ist dringend nötig, eine Einheit der demokratischen Kräfte zu mobilisieren und international verstärkt auf die Gefahren eines Putsches in Brasilien hinzuweisen.

Übersetzung: Christian Russau