Bewegt sich auch das politische Brasilien wieder zurück in das «alte Normal» wie womöglich die USA? Wohl kaum, aber die Ergebnisse bei den Kommunalwahlen am vergangenen Sonntag haben Präsident Bolsonaro und seinen Anhängenden doch einen deutlichen Dämpfer verpasst. Die meisten seiner Kandidat*innen für Bürgermeister*innen haben sich nicht durchsetzen können und für die Stichwahl am 29. November sieht es in den meisten Gemeinden nicht besonders hoffnungsfroh für sie aus. Die Wahlgewinnenden kommen vor allem aus dem Spektrum von «Zentrumsparteien», das einst mit der Militärdiktatur kollaborierte, aber seit der Demokratisierung vor allem Pragmatismus und den eigenen Vorteil im Blick hat. Diese Parteien sind genauso zahlreich wie auswechselbar und dominieren das kommunalpolitische Geschehen in den Orten und Kleinstädten im Zentrum Brasiliens seit jeher. Im Machtzentrum Brasília regieren sie immer irgendwie mit, Bolsonaros Extremismus befremdet sie allerdings fast genauso wie progressive Ideen. Der Präsident und seine Söhne (die allesamt aktive Politiker sind) versuchen die Wahl indes zu diskreditieren, indem sie in der Wahlnacht aufgetretene Computerprobleme bei der Wahlbehörde TSE und eine zuvor erfolgte wenig erfolgreiche Attacke auf deren Website aufbauschen.
Torge Löding ist Leiter des Regionalbüros Brasilien und Cono Sur der Rosa-Luxemburg-Stiftung in São Paulo.
Die Mehrheit dieser 5570 Städte ist aber kaum als Thermometer für die politische Stimmung im Land anzusehen, die Hauptstädte der 24 Bundesstaaten sind da schon eher aussagekräftig. Bundesweit hat sich die politische Linke bei diesen Kommunalwahlen besser geschlagen als in ihrer tiefen Krise 2016. Das konnte wohl nur gelingen, weil der politischen Linken eine teilweise Erneuerung gelungen ist, nachdem sie spätestens seit dem Impeachment/Putsch gegen Präsidentin Dilma Rouesseff (PT) 2016 in eine tiefe Krise geraten ist. Lulas «Arbeiter*innenpartei» PT ist weiterhin flächendeckend die dominante Kraft auf der Linken, aber diese ist pluraler geworden. Ihre neuen Helden gehören der nächsten Generation sind, also U-40 und oftmals weiblich und bewegungsorientiert. In Recife (Pernambuco) zieht die Parteilinke Marilia Arraes für die PT in die Stichwahl, ein breites linkes Bündnis hat diesen Erfolg möglich gemacht. In Porto Alegre (Rio Grande do Sul) will die Kommunistin (PCdoB) und Feministin Manuela D´Avila das politische Erbe der früheren linken PT-Regierungen antreten und wird sich bei der Stichwahl ein Duell mit einem Konservativen liefern. Das vermutlich größte Aufsehen erregt indes das politische Szenario in São Paulo, der größten Stadt Brasiliens. Hier ist nicht nur die Niederlage des Bolsonarismus besonders deutlich, sondern mit dem guten Ergebnis (20 Prozent) für Guilherme Boulos auch die erneuerte Linke. Der Koordinator der «Bewegung Arbeitender ohne Obdach» (MTST) arbeitet und lebt nicht nur in einem Außenbezirk der Wirtschaftsmetropole, er artikuliert verschiedene soziale Bewegungen, vertritt glaubwürdig linke feministische und antirassistische Politik. Boulos und die mit ihm verbundenen Bewegungen (der Landlosen, Schwarze Frauen etc.) mobilisieren konkrete Unterstützung gemeinsam mit denen, die durch Wirtschaftskrise und Pandemie in Not geraten sind. Für die reiche Oberschicht ist es ein Alptraum, dass Boulos nun für die linkssozialistische «Partei Sozialismus und Freiheit» (PSOL) den amtierenden Bürgermeister von der konservativen PSDB (30 Prozent) in der Stichwahl herausfordern wird. Für den Aufbau dieser neuen Linken bietet dieser Wahlkampf herausragende Möglichkeiten durch Mobilisierung und allgemein erhöhtes politisches Interesse. In weiteren Großstädten hat die PSOL gute Ergebnisse eingefahren, in Belém (Pará) etwa liegt der Politveteran, Edmilson Rodrigues, deutlich vor dem Bolsonaro-Kandidaten, hier wird die zweite Wahlrunde eine echte antifaschistische Herausforderung.
Ausgerechnet der umstrittene Sergio Moro, der als verantwortlicher Richter in den Antikorruptionsprozessen von «Lava Jato» eine Politagenda gegen Ex-Präsident Lula betrieb und ihn erfolgreich an einer Kandidatur 2018 hinderte, twitterte noch in der Wahlnacht, dass die PSOL nun die relevante Kraft der Linken sei. Auch wenn die PSOL bei dieser Wahl relevanter wurde, ist diese Aussage falsch. Die PT bleibt eine Massenpartei, während die PSOL gerade erst beginnt aus einer Nische herauszutreten. In ihrer Herzkammer São Paulo hat PT-Kandidat Jilmar Tatto nur 8,6 Prozent errungen, bei Stadtverordneten liegt seine Partei hier und landesweit aber ganz klar vorn. Tatto und weitere führende PT-Politiker*innen kündigten indes noch am Wahlabend an, die Kandidatur von Boulos und seiner Stellvertreterin Luiza Erundina (die beliebte 85jährige Veteranin linker Stadtpolitik eroberte 1989 São Paulo erstmals als Bürgermeisterin für die PT) mit aller Kraft zu unterstützen.
Vielerorts sind es aber vor allem die neuen PSOL-Stadträtinnen, die für mehr Diversität in den Kommunalparlamenten sorgen werden. In São Paulo verdreifachte sie ihre Fraktionsstärke (jetzt 6 von 55), gestärkt wird die feministische und bewegungsorientierte Fraktion durch Schwarze Feministinnen und Transgender-Abgeordnete, weitere kollektive Mandate konnten gewonnen werden. Auch dies ist ein landesweiter Trend, in kleinere Gemeinden mit großer Schwarzer Bevölkerung konnten Quilombo-Bewohner*innen wichtige Ämter erringen. Im Bundesstaat Goiás gibt es einen ersten Quilombo-Bürgermeister, in Maranhão einen ersten Vize-Bürgermeister, dazu kommen landesweit 47 Stadtratsmandate für Quilombolas.
Diese Fortschritte sind natürlich noch begrenzt, aber doch sind es für die brasilianische Linke relevante Veränderungen, die hoffen lassen dürfen. Wie politisches Kapital aber auch wieder verspielt werden kann, zeigt indes der Fall Rio de Janeiro. Vor vier Jahren gelang der PSOL erstmals der Einzug in die Stichwahl in einer wichtigen Großstadt, Marcelo Freixo unterlag damals gegen den evangelikalen Prediger und Bolsonaro-Mann Crivella. Freixo hatte zu Beginn des Jahres landesweit Initiativen für antifaschistische Bündnisse angestoßen und sich mit der PT und anderen Linken bereits auf eine Bündniskandidatur in Rio geeinigt. Seine Bedingung war aber auch die Mitte-Links-Kräfte wie die «Demokratische Arbeiter*innenpartei» PDT in das Bündnis aufzunehmen. Am Ende wollte die PDT aber nicht und so blieben von der Bündnisidee nur Splitter. Die Prozente, die PT, PDT und PSOL am Sonntag erreichten, wären in der Summe mehr gewesen als die knapp 22 Prozent des amtierenden Bürgermeisters Crivellas. Obwohl er abgewirtschaftet hat gelingt ihm so aber der Einzug in die Stichwahl. Obwohl er die gegen den konservativen Politprofi, Eduardo Paes, (37 Prozent) sehr wahrscheinlich verlieren wird, dem allerdings auch dubiose Verbindungen zu den Milizen nachgesagt werden. Vielleicht läutet die Abwahl Crivellas dann auch das Ende einer Ära ein: Die fundamentalistisch-evangelikale Wahloffensive in Lateinamerika nahm als «Exportmodell Brasilien» mit dem Aufstieg Crivellas in Rio vor gut vier Jahren nämlich ihren öffentlichkeitswirksamen Anfang.