News | Erinnerungspolitik / Antifaschismus - Deutsche / Europäische Geschichte Die Karl-Marx-Allee im Brandenburger Wald

Dr. Irmgard Zündorf und Dr. Jürgen Danyel zur Zukunft eines zeithistorisch interessanten Areals am Bogensees

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Ein Gebäude der ehemaligen Jugendhochschule «Wilhelm Pieck» am Bogensee im Frühjahr 2021 Foto: Alrun Kaune-Nüßlein

Am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam haben Sie zuletzt ein Ausstellungs- und Forschungsprojekt durchgeführt. Es bezog sich auf ein sehr ausgedehntes Areal, versteckt im Wald, am Bogensee rund 50 Kilometer nördlich von Berlin. Sie schreiben, dort konzentriere sich die Geschichte des 20. Jahrhunderts wie in einem Brennglas. Was ist das für ein Ort?

Jürgen Danyel: Ein schwieriger und keinesfalls eindeutiger. Erinnerungskultur orientiert sich ja gerne an eindeutig besetzten Orten, die entweder positiv oder negativ konnotiert sind. Das gestaltet sich am Bogensee sehr viel schwieriger. Wir haben das Gelände der ehemaligen FDJ-Jugendhochschule «Wilhelm Pieck» und es gibt den Waldhof von Joseph Goebbels. Wir haben die Kaderschmiede der Freien Deutschen Jugend, die zugleich aber auch ein Ort internationaler Begegnung war, geprägt von einer gewissen Weltoffenheit, die es in bestimmten Regionen der DDR-Gesellschaft ja durchaus gegeben hat. Wir haben eine politische Privatheit einer NS-Größe mit dem Waldhof von Goebbels, also auch sehr schwierig zu handhaben.

…der Mythos vom sogenannten «Liebesnest».

Jürgen Danyel: Ja, Goebbels, der sich propagandistisch gern als Familienvater inszenierte, – aber gleichzeitig ist es ein Ort, an dem eben auch NS-Ideologie entsteht und kommuniziert wird. Im Waldhaus richtete die Rote Armee 1945 ein Lazarett ein und gleich nach ihrem Abzug zog die FDJ ein, um dort ihre Schulungsarbeit zu beginnen. Es ist also auch ein Ort von Nachkriegshoffnung, etwas Neues zu beginnen, auf die Jugend zu setzen, irgendwie einen Neuanfang zu wagen. Ende der 1950er Jahre eröffnet dort noch ein Internationaler Lehrgang, an dem jährlich rund 500 junge Menschen aus der ganzen Welt in Marxismus-Leninismus unterrichtet wurden. Das alles spiegelt sich auf diesem riesigen Gelände, das übrigens auch ein interessantes Stück Architekturgeschichte bietet.

Sie meinen die Anfang der 1950er Jahre im sogenannten «Zuckerbäckerstil» errichteten Lehr- und Schulgebäude der Jugendhochschule?

Jürgen Danyel: Ja, wir haben gewissermaßen noch eine zweite Karl-Marx-Allee und zwar im Brandenburger Wald. Von der Krippe bis zum Krankenhaus war dort alles organisiert. Je länger wir uns von der Zeit entfernen, in der diese Gebäude eine bestimmte Funktion und Nutzung hatten, gewinnen sie andere Bedeutungen und das ist auch beim Bogensee ganz offensichtlich. Sie sind Projektionsfläche geworden für aktuelle gesellschaftliche Debatten. In diesem Fall z.B. über Fragen, wie mit ostdeutschen Erfahrungen umgegangen wird und ob man so etwas stehen lässt oder abreißt. Seit 1999 steht das Gelände leer, mit mittlerweile auch deutlich erkennbaren Spuren des Verfalls. Aber es ist mit der Zeit eben auch ein geheimnisvoller Ort geworden, den viele Leute fast lieber erkunden, als in Museen oder fertige Ausstellungen zu gehen. Das ist auch für Historiker*innen eine spannende Sache, wenn sich so viele Zeitschichten an einem Ort überlagern. Die Übergänge, die in der Zeitgeschichte stattfinden – das muss man diskutieren, kenntlich machen, ohne gleichzeitig vereinfachende Antworten darauf zu finden. Anstatt eine Kontinuität zwischen den Diktaturen zu konstruieren, müssen wir uns die Zwänge der Nachkriegszeit anschauen, die natürlich auch dazu führten, dass bestimmte Infrastrukturen weiter genutzt wurden.

Nun wollen Sie das Gelände zeithistorisch und erinnerungspolitisch erschließen.

Irmgard Zündorf: Als wir den Ort das erste Mal besuchten, kam er uns vergessen, vernachlässigt und verkannt vor. Ihn zu sanieren, wird einen gigantischen Aufwand bedeuten und würde wahrscheinlich viele Beteiligte überfordern. Ich denke, man muss Wege finden, das Areal schrittweise zu entwickeln. Unsere Rolle sehe ich eigentlich nicht so sehr darin, dort ein Konzept zu entwickeln, wie man die Gebäude nutzen kann, sondern zunächst einmal den Weg für Aufmerksamkeit zu ebnen und historische Informationsangebote zu schaffen. Ein wenig auch die Fantasie anzuregen, auch unkonventionelle Formen des Umgangs zu finden. Mehr können und mehr wollen wir ja nicht, das reicht aber schon als Aufgabe.

Unkonventionelle Formen? Sie meinen Zwischennutzungen, um den Ort wieder sichtbarer zu machen?

Jürgen Danyel: Der erste Schritt, und der ist relativ einfach zu machen, ist Informationen an das Gelände zu bringen. Dass diejenigen, die dort hinkommen, sprichwörtlich nicht mehr im Dunkeln tappen. Das kann auf ganz verschiedene Weise geschehen. Wir haben mit einer Ausstellung angefangen. Als nächstes könnten vor Ort Informationsstelen angebracht werden. Es gibt vielfältige Formen von QR-Codes über Audio-Walks bis Geocaching, ein solches Gelände auch mit geringem Aufwand zu bespielen. Nun gilt es die Zuständigen, insbesondere die Berliner Immobilienmanagement GmbH (BIM) und natürlich die beteiligten Bundesländer Berlin und Brandenburg ins Boot zu bekommen…

Irmgard Zündorf: Man könnte die Ausstellung auch für ein, zwei Wochen vor Ort zeigen, Open-Air-Theater spielen und weitere Kultur hinbringen. Aus solchen Zwischenlösungen haben sich öfter schon dauerhafte Einrichtungen ergeben. In jedem Fall hoffen wir, im Herbst schon erste Führungen anbieten zu können und dabei auch in die Gebäude selbst zu gelangen. Mit der BIM müssen wir dazu noch ein paar Absprachen treffen, wobei insbesondere noch ein paar sicherheitstechnische Probleme zu klären sind. Unabhängig davon denken wir über Audioführungen nach sowie über mehrere Podcast-Folgen, in denen Geschichte über die Gebäude und das Areal erzählt wird, über die Leute, die dort mal arbeiteten oder an der Jugendhochschule studierten. Dafür stellen wir gerade erste Anträge. In absehbarer Zeit wollen wir auch die frühere Kunst an der Jugendhochschule thematisieren. Zu großen Teilen war sie im Rahmen eines Wettbewerbs in den 1980er Jahren entstanden. Sie zeigt Auftragskunst in all ihrer inzwischen anerkannten Vielfalt und Breite, also auch wie Künstlerinnen und Künstler mitunter sehr eigensinnig mit den ihnen vorgegebenen Themen umgegangen waren. Aktuell sind die Werke noch im Kunstarchiv Beeskow untergebracht. Wir haben viel Fotomaterial gefunden, aus dem ersichtlich wird, wo die Kunstwerke mal gehangen hatten. In das Dokumentationszentrum Alltagskultur der DDR in Eisenhüttenstadt wanderte die gesamte belletristische Sparte (mitsamt der Karteizettelkasten!) aus der Bibliothek der Jugendhochschule. Da lässt sich auch wissenschaftlich noch sehr viel über das «Leseland DDR» erfahren.

Jürgen Danyel: Und jenseits des Kurzfristigen und Realistischen, wenn wir mal ein bisschen der Fantasie Raum geben, dann könnte es langfristig eine vernünftige Idee sein, den Waldhof von Goebbels zu einem zeithistorischen Dokumentationszentrum zu entwickeln. Da sind wir auf der Suche nach Verbündeten. Es gäbe die Möglichkeit, sich auf intelligente Weise mit NS-Propaganda und ihren Hintergründen auseinanderzusetzen

Sie sprachen Ihre Ausstellung zum Areal am Bogensee an. Bislang kann sie nur auf der Webseite www.bogensee-geschichte.de eingesehen werden. Für die Ausstellung und Webseite haben Sie sehr viel Bildmaterial und historische Dokumente zusammengetragen. Zu sehen ist zum Beispiel auch der spätere Kommunismusforscher Wolfgang Leonhard, noch in seinen jungen Jahren, wie er 1946 selbst als Dozent an der Jugendhochschule tätig war…

Irmgard Zündorf: …das ist aus der Frühgeschichte der sowjetischen Besatzungszone, die inzwischen ganz gut erforscht und nach wie vor ein ganz spannendes Kapitel ist! Die Fragen von Offenheit und schrittweiser Verengung und warum es dann so schnell geschehen konnte, dass bestimmte Ideen und auch Zugänge zu dem, dass man damals in Nachkriegsdeutschland gedacht und diskutiert hat, abgebrochen wurden. Das spiegelt sich in den Biographien – von Wolfgang Leonhard sicher am prominentesten. Solche biographischen Brüche finden sich ja in der gesamten Geschichte des Staatssozialismus in der DDR, wo es die Identifikation mit der Idee und den gesellschaftlich propagierten Zielen gab und gleichzeitig erfahren wurde, wie die angestrebten Entwicklungen abgebrochen, verdrängt wurden, in den Hintergrund gerieten. Auch insofern bietet eine Beschäftigung mit den Geschichten am Bogensee ganz interessante Perspektiven.

Jürgen Danyel: Die Jugendhochschule war fest eingebunden ins Kader- und Herrschaftssystem der DDR. Aber die Menschen erlebten dort auch einen Alltag mit vielen Gemeinschaftserfahrungen und internationaler Begegnung, bei der – trotz aller Limitierungen und ganz verschiedener politischer wie religiöser Hintergründe – diskutiert wurde, wie Sozialismus aussehen kann. Und das finde ich noch einmal spannend, weil ich es für anschlussfähig halte an gegenwärtige Debatten: Wie soll Gerechtigkeit aussehen, wie gehen wir mit Globalisierung um? Daraus lässt sich sicher einiges für die Gegenwart ziehen.

In seiner kürzlich veröffentlichten Studie, analysierte Detlef Siegfried, Professor für Neuere Deutsche und Europäische Geschichte an der Universität Kopenhagen, die Jugendhochschule am Bogensee als eine Schnittstelle «alternativer Globalisierung»[1].

Jürgen Danyel: Völlig richtig – und das ist von Bedeutung auch angesichts einer immer wieder sehr verengt geführten Diskussion über Fremdenfeindlichkeit und Distanz zur «offenen Gesellschaft» im Osten nach dem Ende der DDR. In den Schatten gestellt und damit oftmals auch entwertet werden Erfahrungen an Internationalität, an Solidarität mit all ihren Ambivalenzen. Ich erinnere mich noch gut daran, an wen ich als Schüler oder Student alles gespendet habe. Das bedeutet Empathie. Es gab solche Inseln und es würde sich lohnen, sie sich noch einmal genauer anzuschauen und zu fragen, welche Bedeutung sie für die Gesellschaft hatten und warum ihre Wirkung aber auch so limitiert gewesen ist.

Die Fragen für die RLS stellten Anika Taschke und Uwe Sonnenberg.

VERANSTALTUNGSTIPP: Am 13. September sprechen Detlef Siegfried, Dagmar Enkelmann und Jürgen Danyel in der Rosa-Luxemburg-Stiftung über «Weltrevolution in der DDR» und werden dabei vertiefend auch weitere Fragen erinnerungskultureller Natur zum Areal am Bogensee aufgreifen. Zur Veranstaltung


[1] Detlef Siegfried: Weltrevolution in der DDR 1961-1989, Wallstein, Göttingen 2021.