Über die Auswirkungen von Pandemie, Sanktionen und niedrigem Ölpreis – und warum die Teheraner Börse dennoch Rekordwerte verzeichnet; darüber sprach Daniel Walter mit der Ökonomin Katrin Kamin vom Institut für Weltwirtschaft in Kiel.
Daniel Walter hat Politikwissenschaft und Middle Eastern Studies in Bonn, Schweden und Teheran studiert. Derzeit promoviert er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) zu internationaler Wirtschaftsgeschichte der 1980er-Jahre mit einem Schwerpunkt auf Irans Beziehungen zur Bundesrepublik.
Daniel Walter: Vor einigen Wochen noch hat man im Zuge der Covid19-Pandemie viel über Iran gelesen. Wie sieht die Lage im Land derzeit aus?
Katrin Kamin: Die Fallzahlen steigen weiter. Schon Mitte April hat die Regierung ja mit Lockerungsmaßnahmen begonnen. Einerseits, weil die Zahl der Neuinfektionen angeblich nicht mehr ganz so hoch war, vor allem aber, weil man es sich wirtschaftlich nicht anders hätte erlauben können. Die offiziellen Zahlen müssen mit Vorsicht genossen werden, man kann davon ausgehen, dass die Dunkelziffer wesentlich höher ist. Die Lockerungsmaßnahmen bergen leider die Gefahr einer zweiten Infektionswelle.
Welche Maßnahmen hat die Regierung ergriffen, um den Absturz der Wirtschaft und die sozialen Folgen abzufedern?
Zwar hat die Regierung ein 6 Milliarden Dollar-Paket zur Unterstützung von Kleinunternehmer*innen sowie ein 1 Milliarde Dollar-Paket zur Unterstützung armer Familien angekündigt, ersteres soll allerdings erst im Falle einer zweiten Infektionswelle ausgezahlt werden, und letzteres wurde aufgrund der verhältnismäßig niedrigen Summe kritisiert. Kleinunternehmer*innen haben insbesondere darunter gelitten, dass der Ausbruch von Covid-19 in die Vorbereitungen des Neujahrsfestes Ende März fiel. In dieser Zeit kaufen die Iraner*innen normalerweise viel ein. Schon aufgrund der hohen Inflation von über 30 Prozent können sich die meisten jedoch nur das Nötigste leisten. Die Pandemie und die damit verknüpften Schließungen und Aufrufe zur Selbstisolation haben den privaten Konsum natürlich noch weiter schrumpfen lassen.
In einer jüngst erschienenen Studie haben Sie Iran als «Land vor dem Kollaps» bezeichnet. Was sind die Gründe für diese Diagnose?
Zum einen schränken die 2018 verhängten US-Sanktionen den gesamten iranischen Handel stark ein. Das grundsätzlich am Boden liegende Verhältnis zu den USA erschwert die Lage. In Iran herrscht schon länger eine Stagflation, also eine gleichbleibende oder gar sinkende Wirtschaftsleistung bei gleichzeitiger Inflation. Das erschwert den Alltag der Menschen erheblich. Andererseits hat Iran mit dem sinkenden Ölpreis zu kämpfen. Dieser ist erst infolge eines Preiskampfes zwischen den OPEC-Plus-Staaten drastisch gesunken, hinzu kamen dann Nachfrageschocks durch die Pandemie. Diese Faktoren, gepaart mit den Auswirkungen von Covid-19 im Land selbst, machen die Lage für Iran sehr schwierig.
Einige Beobachter*innen vertreten die Ansicht, Iran sei im Vergleich mit anderen OPEC-Staaten noch vergleichsweise gut gewappnet. Das Land muss kaum Nahrungsmittel importieren, der produzierende Sektor ist relativ groß.
Das stimmt, nur ist auch das produzierende Gewerbe häufig abhängig von Zwischenprodukten, die geliefert werden müssen. Gewöhnliches Papier fällt zum Beispiel nicht unter die von den Sanktionen ausgenommenen humanitären Güter und darf daher nicht eingeführt werden. Deswegen konnten keine Atemschutzmasken hergestellt werden, obwohl Iran sie eigentlich selbst produzieren könnte. Im Vergleich etwa zu Saudi-Arabien ist Iran aber deutlich schlechter aufgestellt, allein durch den eingeschränkten Handel.
Der Trend an der Teheraner Börse ist schon seit Längerem entgegengesetzt. Zuletzt wurden dort trotz der schlechten Wirtschaftslage sogar neue Rekordwerte erreicht. Wie passt das zusammen?
Das wirkt auf den ersten Blick natürlich seltsam. Man muss jedoch bedenken, dass viele der dort verzeichneten Unternehmen in Zusammenhang mit der iranischen Führungselite stehen. Die iranische Regierung hat zum Beispiel Mitte April erfolgreich zehn Prozent des größten staatlichen Sozialversicherers an die Börse gebracht und auch andere staatliche Unternehmen aufgefordert, Anteile zu privatisieren. Außerdem gibt es durchaus Unternehmen, die von den Sanktionen profitieren: diejenigen, die sich zuvor gegen ausländische Mitbewerber*innen durchsetzen mussten.
Wie groß ist die Gefahr, dass hier eine Blase entsteht, die bald platzt?
Die Teheraner Börse profitiert derzeit von staatlichen Privatisierungen, Kleinaktionär*innen, die sich gegen die Inflation durch Investitionen an der Börse absichern wollen, und natürlich nicht zuletzt durch den relativ abgeschotteten Markt. Trotzdem sollte man die Restriktionen, denen sich Irans Wirtschaft gegenübersieht, nicht außer Acht lassen: die Abhängigkeit vom Erdöl, der eingeschränkte Zugang zu Fremdwährungsreserven, steigende Inflation, die kommende Währungs- und Bankenreform. All diese Faktoren bedeuten vor allem eines: Unsicherheit. Dennoch gehen offensichtlich auch große und überregionale Unternehmen in Teheran an die Börse. Einige Investor*innen scheinen auch auf das Zahlungsverfahren INSTEX zu hoffen.
Ein Werkzeug, mit dem EU-Länder die US-Sanktionen teils umgehen und Iran im Atomabkommen halten wollen …
Nach langen Startschwierigkeiten wurde Ende März die erste Transaktion über INSTEX abgewickelt. Ich bin allerdings sehr skeptisch, was etwaige Hoffnungen angeht. Die abschreckende Wirkung der US-Sanktionen ist einfach zu groß. Die Unternehmen und Banken trauen sich nicht, Handel mit Iran zu betreiben.
INSTEX ist also vor allem eine politische Geste?
Eine der Kritiken an dieser ersten Transaktion war auch, dass sie auch ohne INSTEX hätte stattfinden können, da es sich hier um humanitäre Güter handelte. Diese sind von den Sanktionen ausgenommen. Es wäre wichtig, dass sich mehr als nur zehn EU-Länder INSTEX anschließen und eine breitere politische Basis schaffen. Das könnte den Unternehmen etwas mehr Vertrauen signalisieren.
Ist Europa denn überhaupt noch so wichtig für Iran oder hat sich das Land nicht längst anderen Handelspartner*innen zugewendet?
Gesamtwirtschaftlich sind asiatische Länder, vor allem China und Indien, in den vergangenen Jahren inzwischen in der Tat die wichtigsten Handelspartner*innen Irans geworden. Das ist eine Folge der Sanktionen. Was medizinische Güter betrifft, die im Kampf gegen das Coronavirus wichtig sind, ist Europa jedoch immer noch wichtig. Hier erschweren die im Zuge der Pandemie erhobenen Handelsbarrieren für Medizinprodukte die Lage derzeit erheblich. Da muss die EU reagieren. Nicht zuletzt kommt den europäischen Ländern auch eine wichtige diplomatische Rolle zu, um zwischen Iran und den USA zu vermitteln.