Interview | Soziale Bewegungen / Organisierung - Krieg / Frieden - Westasien - Iran - Westasien im Fokus «Der Iran steht vor einer Explosion»

Ein Gespräch mit der iranischen Bloggerin Mina Khani

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Harald Etzbach, Mina Khani ,

Straßenblockade während einer Demonstration gegen eine Erhöhung der Benzinpreise in Shiraz, Iran, 17.11.2019
«Egal, aus welchem Grund protestiert wird, geht es um Überschwemmungen oder die Erhöhung der Benzinpreise: immer wird ‹Nieder mit der Diktatur› gerufen. Die Verbindung ist ganz klar: Wir leben in einer Oligarchie und Diktatur, in der wir nicht frei sind, selbst unser Leben zu gestalten und politische und gesellschaftliche Wege zu finden, um aus der Misere herauszukommen.» Straßenblockade während einer Demonstration gegen eine Erhöhung der Benzinpreise in Shiraz, Iran, 17.11.2019, picture alliance / abaca

Mina Khani stammt aus dem Iran und lebt heute als linke Autorin und Künstlerin in Berlin. Sie hat als Bloggerin vor 10 Jahren angefangen, auf Farsi über politische und soziale Themen zu schreiben. Seit drei Jahren veröffentlicht sie auch auf Deutsch Texte zur politischen Lage im Iran. Vor allem schreibt sie über soziale Bewegungen, insbesondere über die Frauenbewegung. Ihre Texte auf Farsi und Deutsch sind zumeist in linken Zeitungen und Magazinen publiziert worden. Mina Khani hat zudem als Tänzerin und Schauspielerin gearbeitet. Harald Etzbach sprach mit Mina Khani über die aktuellen Protestbewegungen im Iran.
 

Harald Etzbach ist Historiker und Politikwissenschaftler und arbeitet als Übersetzer und Journalist. Er publiziert hauptsächlich zu Themen Westasiens und Nordafrikas und zur US-amerikanischen Außenpolitik.

Harald Etzbach: Im Iran gab es in den letzten Monaten unterschiedliche Demonstrationen und Protestbewegungen: die Proteste im November letzten Jahres, die Trauermärsche für den getöteten Kommandeur der Quds-Brigaden, Qasem Soleimani, und jetzt die Proteste im Anschluss an den Abschuss eines ukrainischen Passagierflugzeugs. Welche Dynamik steckt hinter diesen Demonstrationen, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander, wer trägt sie?

Mina Khani: Um das zu  beantworten, muss man ein wenig zurückschauen. In den letzten zwei, drei Jahren sind bestimmte Teile der Gesellschaft immer wieder auf die Straße gegangen, vor allem die ärmeren Schichten. Es gab eine Reihe von Streiks, die Studentenbewegung hat Proteste innerhalb und außerhalb der Universitäten organisiert. Frauen waren überall sehr aktiv, ebenso wie die nationalen Minderheiten, hier vor allem Araber*innen und Kurd*innen. Es hat also die ganze Zeit über geköchelt.

Was geschah nun im November? Nach der Kündigung des Atomabkommens durch die US-Regierung hat Revolutionsführer Khamenei persönlich ein Gremium gegründet, bestehend aus Präsident Rouhani, Ali Larijani, dem Parlamentspräsidenten, und Justizminister Ebrahim Raisi, das Entscheidungen treffen kann, die dann unmittelbar gültig sind. Genau dieses Gremium, das den etwas sperrigen Namen «Wirtschaftlicher Koordinationsrat von drei Organen des Staates» trägt, hat sich im November getroffen und gewissermaßen von einem Tag auf den anderen eine Erhöhung der Benzinpreise beschlossen. Sie wollten wohl so eine Art Schocktherapie durchsetzen. Die Proteste, die nur einen Tag später ausbrachen und sich dann ganz schnell landesweit ausbreiteten, hatten zwei Aspekte: einen wirtschaftlichen, denn die Schere zwischen Arm und Reich klafft im Iran immer weiter auseinander, was zu einer unerträglichen Situation führt, aber auch einen politischen, weil die Menschen über das immer undemokratischere Vorgehen der Regierung empört waren.

Die Proteste wurden dann außerordentlich blutig niedergeschlagen.

Ja, aber auch dann gingen die Diskussionen weiter. Man hat hier im Westen nicht so viel darüber berichtet, aber es gab im Iran in den Nachrichten täglich Meldungen über die Verhaftungen und die Getöteten, deren Anzahl usw. Es gab Aufrufe von Familienangehörigen der Toten, erneut auf die Straße zu gehen. In einem Fall wurde eine ganze Familie bei einer Trauerfeier festgenommen, nachdem sie einen solchen Aufruf veröffentlicht hatte. Die Stimmung war die ganze Zeit über sehr angespannt.

Dann kam die Ermordung Soleimanis durch die USA. Das gab dem iranischen Staat die Möglichkeit, den Trauermarsch für Soleimani für seine Propaganda zu verwenden: Es gebe zwar hier und da Probleme, aber wenn es um die Revolutionsgarden, die iranischen Grenzen, die iranische Außenpolitik usw. gehe, dann stehe die Bevölkerung hinter dem Staat. Es war eine große Inszenierung und ich glaube, dass der Staat tatsächlich seine gesamte Anhängerschaft dafür mobilisiert hat. Kurz darauf stürzte dann das ukrainische Passagierflugzeug ab, wobei der iranische Staat drei Tag lang hartnäckig leugnete, damit etwas zu tun zu haben, bevor er dann zugeben musste, dass die Revolutionsgarden für den Abschuss verantwortlich waren. Es ist sehr wichtig zu sehen, dass die Proteste, die daraufhin losgingen, in ihren Parolen und Forderungen Bezug nehmen auf die Demonstrationen vom letzten November, es gibt da also eine Kontinuität. Ich glaube, dass diese ganze Diversität der Proteste mit den verschiedenen sozialen und politischen Spaltungen der iranischen Gesellschaft zusammenhängt. Unterschiedliche soziale Schichten oder politische Kräfte drücken ihren Protest jeweils unterschiedlich aus.

Oft wird gesagt, dass die Proteste im November vor allem von der Unterschicht und den nationalen Minderheiten getragen wurden, während jetzt vor allem die Mittelschicht auf der Straße sei. Ist das eine richtige Einschätzung?

Das scheint mir ein wenig vereinfacht. Auch im November haben sich Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten an den Demonstrationen beteiligt, das wird klar, wenn man sich die Namen und die Familien der Verhafteten und Getöteten vom November anschaut. Es ist ja auch so, dass ein Teil der Mittelschicht aufgrund der wirtschaftlichen Krisen der letzten Jahre sozial abgestiegen ist. Diese Menschen haben zwar noch den entsprechenden Habitus, aber sie haben viel verloren.

Eine Sache ist aber bei den letzten Geschehnissen wirklich anders. Die Zahl der Menschen, die mit den Opfern des Flugzeugabschusses sympathisieren, ist viel größer. Man braucht nichts getan zu haben, um sich mit den Opfern zu identifizieren. Es hätte jede*n treffen können. Man braucht nicht politisch zu sein, man braucht nicht auf die Straße zu gehen, man muss noch nicht einmal gegen das politische System sein, es reicht, in ein Flugzeug zu steigen, um Opfer der miserablen Situation im Iran zu werden. Ich glaube, das hat viele erschüttert, und das hat dafür gesorgt, dass auch Menschen aus der Mittelschicht, die zuvor etwas leiser waren, sich jetzt äußern – das betrifft auch Prominente aus den Bereichen Sport, Kunst oder Journalist*innen aus dem staatlichen Fernsehen, die ein Statement veröffentlicht und gekündigt haben.     

Kannst Du etwas sagen zur Rolle der Frauen und der nationalen Minderheiten bei den Protesten?

Bei der Gründung der Islamischen Republik hat deren Begründer, Ajatollah Khomeini, auf zwei Spaltungen gesetzt, um die Bevölkerung zu mobilisieren: die Geschlechterspaltung und die nationale Spaltung, was sich im Iran sehr religiös äußert. Insbesondere während des Kriegs gegen den Irak hat das eine große Rolle gespielt. Khomeini hat versucht, aus dem Iran einen schiitischen Gottesstaat zu machen, daher sollten sich zum Beispiel Frauen auf eine bestimmte Weise kleiden und sich weniger in der Öffentlichkeit bewegen. Es gab Widerstand dagegen, aber letztlich konnte Khomeini sich durchsetzen.

Es gab aber auch ein Narrativ zu «Andersgläubigen» und «Ungläubigen». Das betraf die größtenteils sunnitischen Araber*innen und Kurd*innen im Iran, aber natürlich auch zum Beispiel die Bahais, die überhaupt nicht anerkannt werden. Insbesondere die kurdische Gesellschaft im Iran ist ausgesprochen politisiert, Kurd*innen waren es auch, die sich bereits ganz zu Anfang der Islamischen Republik gegen das Regime gewandt haben. Diese Spaltungen haben sich bis heute fortgesetzt. Es zeigt sich aber zunehmend, dass auch andere nationale Minderheiten sich nicht wirklich als Teil der iranischen Gesellschaft verstehen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass viele von ihnen in geographischen Randgebieten des Landes Leben. Das hat dazu geführt, dass sich in den letzten Jahren insbesondere in den südlichen Teilen des Iran – in Belutschistan und in den von Araber*innen bewohnten Gebieten – starke nationale Bewegungen gebildet haben.

Das Regime versucht, die Protestierenden in bekannter Weise als Agenten des Westens zu diffamieren. Trump hat den Demonstrant*innen auf Twitter in Farsi seine Solidarität zugesagt. Andererseits gibt es Videos, die zeigen, wie Student*innen der Teheraner Universität es vermeiden, auf die Fahnen Israels und der USA zu treten, die vor dem Universitätsgebäude auf dem Boden angebracht sind. Wie schätzt Du diese Entwicklung ein?

Die Islamische Republik hat gleich nach ihrer Gründung den antiimperialistischen und antizionistischen Diskurs der Linken komplett übernommen. Das heißt, es ist im Iran kein Zeichen von Widerstand mehr, pro-palästinensisch oder antizionistisch zu sein. Antizionismus ist eine vom Staat propagierte Ideologie. Das ist der Hintergrund, vor dem die Ereignisse an der Teheraner Uni zu sehen sind. Außerdem: Wenn Menschen innerhalb des Landes etwas tun, bedeutet das manchmal etwas anderes, als wenn die Opposition im Ausland es tut. Es geht nicht darum, dass die Student*innen nun pro-Trump oder pro-zionistisch wären. Der Zwang, bestimmte Dinge tun zu müssen und nicht selbst entscheiden zu können, ist für viele Menschen im Iran einfach schwer erträglich. Man muss diese Dinge im Kontext der Unglaubwürdigkeit des iranischen Staates sehen und nicht als eine differenzierte, reflektierte Position zu Israel oder Palästina.

Von Trumps Äußerungen hat sich die Student*innenbewegung klar distanziert. Einmal natürlich, weil sie nicht wollen, dass die Bewegung mit den Einmischungsversuchen der USA in Zusammenhang gebracht wird, weil das dem Regime eine Rechtfertigung für Repressionen liefern würde, aber natürlich auch, weil sie mit der ganzen Agenda der USA in der Region nicht einverstanden sind.

Welche Haltung nehmen die oppositionellen Strömungen im Iran und in der Diaspora zu den aktuellen Protesten ein? Gibt es explizit linke Positionen?

Die Lage verschärft sich, und die Parolen und die Formen der Proteste werden immer radikaler. Und immer, wenn es so explosiv wird, ist das ein Anlass für die verschiedenen Strömungen der Opposition, sich zu profilieren. Innerhalb der iranischen Diaspora ist die Linke allerdings sehr schwach geworden. Das heißt nicht, dass es wenig linke Iraner*innen gibt, aber sie stehen den jüngsten Entwicklungen im Iran etwas ratlos gegenüber. Für die rechte Opposition ist das anders, da sie keine Scheu hat, mit prowestlichen Institutionen zusammenzuarbeiten, wo dann auch genügend Geld vorhanden ist. Die iranische Linke macht es sich auch sehr schwer, sie ist sehr abwesend, auch in der Auseinandersetzung mit der westlichen Linken. Die rechte Opposition wird hingegen hofiert. Das führt dazu, dass die Iraner*innen ein bestimmtes Bild von der Opposition im Ausland haben: Leute, die viel Geld bekommen und uns sagen wollen, was wir zu tun haben. Trotzdem wenden sich viele Iraner*innen im Land selbst aufgrund der starken Unterdrückung an diese Opposition. Sie schicken zum Beispiel Videos an die entsprechenden Fernsehsender, einfach weil sie wollen, dass über sie berichtet wird. Oft können sie dabei auch überhaupt nicht erkennen, welche politischen Kräfte hinter solchen Sendern stehen. Es ist darum sehr schwierig, auf dieser Grundlage zu analysieren, welche iranischen Kräfte mit welchen Kräften im Ausland zusammenarbeiten.

Auf jeden Fall kann aber gesagt werden, dass die Arbeiter*innen und Lehrer*innen im Iran, die am besten organisiert sind, sich weigern, Kontakte zu solchen Institutionen herzustellen. Zugleich äußern sie sich sehr zurückhaltend in Bezug auf die Proteste, um ihre eigene Arbeitsfähigkeit nicht zu gefährden. Die Student*innenbewegung ist in den letzten Jahren sehr links geworden. Man sieht das an Parolen wie «Student*innen und Arbeiter*innen, vereinigt euch» oder «Arbeit, Brot, Freiheit», die von den Arbeiter*innen aufgegriffen werden, wie auch umgekehrt Parolen der Arbeiter*innen von den Student*innen übernommen werden.

Wenn man die Diskussionen der Iraner*innen in den sozialen Netzwerken verfolgt, wird man feststellen, dass die Stimmen der Linken in der Diaspora vielleicht leiser, aber im Iran selbst ziemlich laut sind. Das ist bemerkenswert, da die Linke im Iran massiven Repressionen ausgesetzt ist. Die ganze Diskussion über die Verbindung sozialer und politischer Fragen, die nationale Frage, die Frauenfrage wird von der Linken im Iran in den Gewerkschaften oder den Student*innenverbänden geführt. Die iranische Linke versucht, sehr viel von unten zu organisieren, Basisarbeit zu machen; Linke vermeiden es aber, im Mittelpunkt zu stehen, weil sie dann sofort zur Zielscheibe für die Repression des Regimes werden.

Wie schätzt Du die weitere Entwicklung ein? Im November wurden die Proteste blutig niedergeschlagen. Amnesty International sprach von mehreren Hundert Toten und Tausenden von Inhaftierten. Die Dunkelziffer liegt wahrscheinlich bedeutend höher. Droht jetzt ein ähnliches Szenario?

Nach dem Abschuss des ukrainischen Passagierflugzeugs konnte man sehen, dass das Regime ein wenig vorsichtiger war, nicht bei den Verhaftungen, aber in Bezug auf Tote oder eine Internetsperre. Ich glaube, das liegt daran, dass das Regime jetzt das Gefühl hat, dass die internationale Öffentlichkeit zusieht, dass der Druck noch da ist. Die unzufriedenen Teile der iranischen Bevölkerung reagieren momentan sehr schnell. Es braucht nur einen kleinen Auslöser, und schon sind sie wieder auf der Straße. Es ist offensichtlich, dass der iranische Staat nicht einfach so weitermachen kann wie bisher, ohne dass massiver Widerstand organisiert wird.

Eine Sache ist sehr wichtig: Seit mehreren Jahren ist es so, dass, egal warum protestiert wird, immer «Nieder mit der Diktatur» gerufen wird. Es geht um Überschwemmungen, da wird diese Parole gerufen, die Benzinpreise werden erhöht, da wird sie gerufen. Die Verbindung ist ganz klar: Wir leben in einer Oligarchie und Diktatur, in der wir nicht frei sind, selbst unser Leben zu gestalten und politische und gesellschaftliche Wege zu finden, um aus der Misere herauszukommen. Das ist der Grundstein meiner Analyse: Solange sich diese Situation nicht grundlegend ändert, und solange die Menschen sich nicht freier fühlen und auch ein besseres Leben führen, wird diese Unzufriedenheit weiter bestehen und nicht mehr zu verbergen sein. Nach meiner Ansicht steht der Iran vor einer riesigen Explosion, noch größer als die, die wir bisher gesehen haben.