Kevan Harris ist Assistenzprofessor für Soziologie an der University of California – Los Angeles. Sein mehrfach preisgekröntes Buch «A Social Revolution. Politics and the Welfare State in Iran» (University of California Press, 2017) wurde mehrfach ausgezeichnet und erschien 2019 in persischer Übersetzung im Iran. Daniel Walter sprach mit ihm über die Unzulänglichkeiten der Rentierstaatstheorie, den iranischen «Wohlfahrtsstaat» und mögliche Entwicklungen nach den jüngsten Protesten.
Inwieweit ist «der Neoliberalismus» der Grund für die jüngsten Protestwellen in Westasien und Nordafrika?
Ich glaube, es gibt eine steigende Unzufriedenheit mit dem analytischen Nutzen des Begriffs. Er ist sehr schwer abzugrenzen und wird gewöhnlich auf alle Aspekte des Gesellschaftslebens angewandt. Am Ende sehen alle Krisen gleich aus. Historische Unterschiede zwischen Regionen und staatlichen Projekten werden verwischt.
In der Historischen Soziologie schaue ich mir Gleichheiten und Unterschiede an. Dazu braucht es häufig andere Kategorien, die nicht einfach unter dem Begriff «Neoliberalismus» zusammengefasst werden können. Sonst lassen sich die Umstände nicht angemessen analysieren. Der libanesische Bürgerkrieg etwa hat einen sehr spezifischen Staat hervorgebracht. Er sieht in vielerlei Hinsicht ganz anders aus als der Staat der arabisch-republikanischen Ära oder der iranische Staat.
Daniel Walter hat Politikwissenschaft und Middle Eastern Studies in Bonn, Schweden und Teheran studiert. Derzeit promoviert er am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) zu internationaler Wirtschaftsgeschichte der 1980er-Jahre mit einem Schwerpunkt auf Iran.
Es gibt also keine Gemeinsamkeiten?
Natürlich gibt es auch Gemeinsamkeiten zwischen dem Irak, dem Libanon und dem Iran. In allen drei Staaten hat Austeritätspolitik den Gesellschaftsvertrag gesprengt. Aber häufig neigt man dazu, unterschiedliche Kontexte und Prozesse in einem Begriff zu verdichten. Für aktivistische Zwecke habe ich damit gar kein Problem. «Neoliberalismus» ist ein geläufiger und eingängiger Begriff, aber da können wir nicht aufhören. Ich denke, der Begriff hat nützlichere Begriffe und Debatten über Geschichte und Gegenwart des Kapitalismus im Mittleren Osten verdrängt.
Die Linke hat ein großes Rätsel in Bezug auf den Mittleren Osten bislang nicht angehen können: Historisch gesehen war die Region viel weniger Ziel neoliberaler Sparauflagen und Restrukturierungsprogramme als etwa Lateinamerika oder das subsaharische Afrika. Die Geopolitik hat dem Neoliberalismus gewissermaßen einen Riegel vorgeschoben. Ägypten musste zum Beispiel nie eine «Schocktherapie» über sich ergehen lassen wie etwa Brasilien oder Mexiko. Das lag wahrscheinlich an der Bedeutung Ägyptens für den Westen während der 1980er Jahre.
Das soll nicht heißen, dass diese Länder nicht auch ihre Sozialausgaben eingeschränkt oder den Druck auf die Arbeiter*innenklasse erhöht haben. Ein angemessener Blick auf die Welt sollte jedoch die feinen Gemeinsamkeiten und Unterschiede einschließen. Die alleinige Kritik am «Neoliberalismus» wird uns das nicht ermöglichen. Sie mündet häufig nicht zuletzt in nutzlose Debatten darüber, ob eine Regierung nun neoliberal ist oder nicht, als ob das etwas Binäres wäre.
In «A Social Revolution» untersuchst du den iranischen Wohlfahrtstaat der Pahlavi-Zeit und der Islamischen Republik. Du nennst ihn einen «warfare-welfare complex». Inwiefern hilft uns das Verständnis des Wohlfahrtstaates beim Verständnis der Islamischen Republik?
Eine weitverbreitete Theorie, die häufig auf Staaten im Mittleren Osten angewandt wird, ist die Rentierstaatstheorie. Sie zeichnet ein Bild gut konzipierter, funktionierender Systeme, in denen autoritäre Herrscher Ölressourcen oder äußere Unterstützung – im Falle Ägyptens etwa Hilfszahlungen vom Westen oder von den Golfstaaten – strategisch einsetzen. Die politische Elite nutzt diese Ressourcen, für die sie keine Steuern erheben muss, und verteilt sie über Wohlfahrtsorganisationen an die Armen um. Das Resultat ist eine klientelistische, sich selbst reproduzierende Maschine mit einer loyalen Basis.
Diese Beschreibung habe ich auch immer über den Iran gelesen, bevor ich mich dazu entschied, den dortigen Wohlfahrtsstaat zu untersuchen – und ich stellte fest, dass sie völlig falsch ist. Sie ist nicht nur ahistorisch, sie gibt nicht einmal empirisch korrekt wieder, wofür die meisten Sozialausgaben in Iran ausgegeben werden. Der Großteil – Sozialversicherung, Bildung, Gesundheitsvorsorge, Renten – ist auf die Mittelklasse ausgerichtet. Die entsprechenden Organisationen dahinter haben die Islamische Republik von der Pahlavi-Monarchie geerbt, diese aber stark ausgebaut.
Allerdings gibt es gleichzeitig auch para-staatliche Organisationen mit einer sozialpolitischen Mission. Sie sind ein Produkt der Revolution und des Kriegs mit dem Irak und in der Regel hochpolitisiert. Ihre Aktivitäten richten sich an Bevölkerungsteile, die im Sozialsystem der Pahlavi-Monarchie als ausgeschlossen galten.
Der iranische Wohlfahrtsstaat hat also zwei Dimensionen: Eine Reihe sozialpolitischer Organisationen, die selbsternannt revolutionär sind, sowie eine größere Zahl korporatistischer Organisationen, die sich an die Mittelschicht und obere Mittelschicht wenden. Letzteres ist im Globalen Süden häufiger anzufinden, wenngleich nicht immer in derselben Form. Der Ausbau dieser beiden Dimensionen des iranischen Wohlfahrtsstaates nach der Revolution hat zu einer Transformation der Gesellschaft beigetragen: Zur Zeit der Revolution war das Land größtenteils ländlich, ungebildet und jung. Vierzig Jahre später ist es größtenteils urban, weitaus gebildeter und die Menschen sehen sich viel mehr als Bürger*innen, die etwas vom Staat einfordern können.
Statt politische Stabilität zu schaffen, wie die Rentierstaatstheorie behauptet, führt dieses Sozialsystem jedoch dazu, dass neue Gesellschaftsschichten entstehen oder bestehende Schichten wachsen. Diese neuen Schichten bedeuten auch neue sozialpolitische Macht, die dann wiederum auf den Staat zurückgerichtet wird. Der iranische Wohlfahrtsstaat hat also eine Art Dialektik zwischen Staat und Gesellschaft geschaffen. Natürlich versuchen staatliche Modernisierungsprojekte, Sozialpolitik strategisch zu nutzen. Ihre Traumvorstellung ist, dass die Empfänger*innen der Sozialpolitik das Fundament des Staates und des Systems bilden, aber das ist historisch gesehen nicht passiert. Wir haben hier ein dialektisches Verhältnis von Sozialpolitik und Gesellschaftsvertrag. Nicht diesen statischen, ahistorischen Ansatz, den ich so häufig in der bisherigen Forschung zu Iran und zum Mittleren Osten generell vorgefunden hatte. Daher ist der Iran das Gegenteil des klassischen Rentierstaats.
An anderer Stelle hast Du den Gesellschaftsvertrag in Iran als einen «developmental populism» beschrieben. Was meinst Du damit und: Ist er gescheitert?
Nach der Revolution war die politische Elite des Iran extrem gespalten. Im Bereich der Entwicklungspolitik waren Themen wie Landreform, Privatbesitz und Handel, Steuern, Sozialpolitik oder Familienplanung hochumstritten. Gegen Ende des Iran-Irak-Kriegs im Jahr 1988 hatte die politische Elite jedoch die kollektive Erkenntnis, dass sie einem Dilemma gegenübersteht, das jeder revolutionäre Staat kennt: Modernisieren oder zugrunde gehen. Die grundsätzliche Einigung war: «Okay, wir sind quasi überall unterschiedlicher Meinung, aber wir einigen uns darauf, dass die Revolution nur überlebt, wenn wir modernisieren.»
Zu Beginn der Revolution wurde viel über Moral, die Schaffung eines neuen Menschen und andere typische revolutionäre Themen geredet. Das wurde später Stück für Stück von einem Entwicklungsdiskurs verdrängt, im Sinne von: Die Revolution und die Islamische Republik werden euch – in materieller Hinsicht – das gute Leben ermöglichen.
Schaut man sich heute die Klassenstruktur des Iran an, war die Haupttransformation die Entbäuerlichung der Arbeiter*innenschaft. Die Menschen sind entweder informelle Arbeiter*innen oder Teil von Arbeiter*innenklasse, Kleinbürgertum bzw. Mittelklasse geworden. Das erzeugt Gegensätze. Der durchschnittliche Lebensstandard im Iran ist gestiegen, insbesondere vom Ende des Iran-Irak-Kriegs bis zum Ende der 2000er Jahre. Das bedeutet aber nicht das Ende jeglicher Politik. Viel eher war es der Anfang eines neuen Politiktyps, bei dem neuartige Forderungen gegenüber dem Staat erhoben wurden und die Menschen eine andere Art politischer Repräsentation verlangten.
Wenn man den Iran nur als diese Art «Ayatollah-Staat» betrachtet, übersieht man die großen Differenzen innerhalb der politischen Elite, die an unterschiedliche Klassenkoalitionen geknüpft sind und zu kaum vorhersehbaren Zyklen iranischer Politik führen.
Die Revolutionsgarden werden häufig, vor allem in der Wirtschaft, als machtvolle Strippenzieher im Hintergrund dargestellt. Welche Rolle spielen sie in diesem Machtgefüge wirklich?
In den späten 1980er Jahren war der revolutionäre Diskurs stark von Themen wie Selbstständigkeit geprägt. Zusammen mit den Einschränkungen durch internationale Sanktionen begann dadurch ein Prozess, in dem verschiedene Teile des iranischen Staates begannen, sich selbst zu privatisieren. Das geschah durch Subunternehmen, durch Privatunternehmen, die inoffiziell an Ministerien angegliedert wurden, sowie durch die Revolutionsgarden und andere staatliche Organisationen. Es war ein genereller Prozess des Ausgliederns an halbstaatliche Organisation.
In den 1990er Jahren förderte die Regierung diese Entwicklung, da sie wollte, dass diese Teile des Staates für sich selbst aufkommen. Am Ende des Jahrzehnts schufen all diese Institutionen – auch hier nicht nur die Revolutionsgarden – ihre eigenen Banken, da die staatlichen Banken ihnen kein Geld mehr liehen. Die Revolutionsgarden haben ihre Bank, das Militär hat seine Bank – sogar die Teheraner Stadtverwaltung hat ihre eigene Bank! Schaut man sich allein die Revolutionsgarden an, übersieht man das Ökosystem, in dem diese Entwicklungen stattfanden.
Wie hat sich das während der Präsidentschaft Mahmud Ahmadinedschads verändert?
In dem Zeitraum gab es hohe Staatseinnahmen, gleichzeitig waren aber Privatisierung und das Mantra des «kleinen Staates» weit oben auf der politischen Agenda. Allerdings hat der Iran einen sehr kleinen Privatsektor, der die riesigen Vermögen, die nach der Revolution nationalisiert worden waren, entweder nicht zurückkaufen konnte oder es nicht durfte. Im Grunde wurden daher unter Ahmadinedschad große Teile des öffentlichen Sektors an diese halbstaatlichen Organisationen übergeben. Große Unternehmensanteile gingen an riesige Rentenfonds, die massiv in die iranische Wirtschaft investieren. All diese Organisationen übernahmen Teile des Staates. Das hat eine Grauzone halbstaatlichen Eigentums und somit viel Raum für Korruption geschaffen.
Die Sanktionen der US-Regierung unter Barack Obama in den frühen 2010er Jahren machten alles noch undurchsichtiger, weil nun versucht wurde, Geschäfte zu verbergen. Nach 2013, als die Moderaten im Iran wieder an die Macht kamen, gab es unter ihnen zahlreiche Korruptionsfälle. Wir haben hier also einen historischen Prozess der Entstehung halbstaatlicher Unternehmen. Zu sagen, die Revolutionsgarden würden alles kontrollieren, kann daher nicht die ganze Geschichte sein.
Wer besitzt die Unternehmen denn?
Die halbstaatlichen Organisationen gehören keinen Einzelpersonen. Oligarchen osteuropäischen Typs gibt es in Iran eher nicht. Russland oder die Ukraine sind also kein guter Vergleich. Es ist eine Art staatliches Milieu. Nur, weil einzelne Organisationen oder mit einer Organisation verknüpfte Personen in der Wirtschaft hochpräsent sind, heißt das nicht gleich, dass sich das weltweit gleichermaßen in politische Macht übersetzt.
Alle, die unaufhörlich über die Revolutionsgarden reden und wirtschaftliche und politische Macht für austauschbar halten, sind für mich Vulgärmarxist*inen. Sie historisieren nicht, sie berücksichtigen nicht das Ökosystem, in dem diese Entwicklungen stattgefunden haben, und sie vermischen das Politische mit dem Ökonomischen.
Die großen Proteste seit 2017/18 werden im Vergleich zur Grünen Bewegung 2009 häufig als fundamental anders porträtiert. Während im ersten Fall vor allem die Unter- und untere Mittelschicht in den Provinzstädten protestierten, soll es im zweiten Fall ein Protest der urbanen Intelligentsia gewesen sein. Stimmt das so?
Die meisten Analysen zu den jüngsten Protesten gehen von zwei Annahmen aus, die ich beide anzweifeln würde. Erstens, dass das ärmste Drittel der Gesellschaft die Stütze der konservativen Teile der Islamischen Republik sei. Diese Annahme war wahrscheinlich für die letzten zwanzig Jahre falsch. Viel wahrscheinlicher ist, dass sowohl die größte Unterstützung als auch die größte Kritik aus der Mittelschicht kommen, deren Wachstum und Wandlung seit der Revolution so stark war.
Schauen wir uns nur die Trauermärsche für Qasem Soleimani an – das waren nicht die ärmsten Menschen in Iran. Die Vorstellung, dass arme Menschen eine Säule der Islamischen Republik sind, ist ein Mythos. Dahinter steckt wieder die Theorie, dass der Iran armen Menschen einfach Geld gibt und diese dann den Staat unterstützen – wie Bestechung. In gewisser Weise sehen wir hier, wie sich rechte Diskurse aus Europa und den USA in der Analyse von Politik im Mittleren Osten breitmachen, nämlich dass Bezieher*innen staatlicher Sozialprogramme abhängig oder zu apolitischen Bittsteller*innen würden. Auch viele iranische Intellektuelle schreiben ähnlich über Arme. Dabei gibt es wenig empirische Beweise dafür, dass die Hauptunterstützung für die Islamische Republik aus den ärmsten Schichten kommt, egal ob bei Wahlen oder im Unterbau konservativer Institutionen.
Vielmehr wurden die Armen in den 1990er und 2000er Jahren stetig aus dem Gesellschaftsvertrag gedrängt, wenn man die positiven Auswirkungen von Wirtschaftswachstum und Subventionen für Grundnahrungsmittel und Kraftstoff mal außen vor lässt. Das könnte übrigens auch erklären, warum Ahmadinedschad so populär war. Er sah nicht nur so aus und redete wie das untere Drittel, er personifizierte sozialen Aufstieg. Dieser einer armen Familie entstammende Mann wurde Ingenieur, Bürgermeister Teherans und schließlich Präsident.
Zudem setzte er eine der Ideen der Liberalen um – ein nahezu universelles System von Direktzahlungen –, wofür ihn die Liberalen hassten. Statt Benzin zu subventionieren, sollte das Geld direkt an die Haushalte fließen. Das hatte große Auswirkungen während der Sanktionen in den Jahren 2011/12, weil es eine Art Puffer am unteren Ende der Einkommensverteilung schuf. Viele Ökonom*innen gehen davon aus, dass der Gini-Index [1] während dieser Zeit um einige Punkte schrumpfte.
Diese Zahlungen holten viele Iraner*innen zurück in den Gesellschaftsvertrag, die seit der Revolution immer mehr aus dem Wohlfahrtssystem verdrängt worden waren. So betrachtet ist es auch nicht überraschend, dass die Proteste 2017/18 sowie 2019 nicht von jenen getragen wurden, die immer außen vor waren, sondern von Menschen, die Zugang zu einigen Sozialprogrammen hatten. Zu den wichtigsten Protestgruppen gehörten Rentner*innen, Lehrer*innen, LKW-Fahrer*innen, Pendler*innen… Die Benzinpreise haben sehr direkte Auswirkungen auf die Leben dieser Leute.
Ob sie komplett anders sind als die Intelligentsia in Teheran? Um ehrlich zu sein, sind diese Teheraner*innen ziemlich weit entfernt von großen Teilen des Landes, wenngleich sie wohl nicht sonderlich anders sind.
Inwiefern?
Ich will gar nicht sagen, dass sie alle vornehme Elite sind, aber als Beispiel mal eine Episode, aus meinem Buch: Ein paar junge, kosmopolitische Iraner*innen fragten mich, wo ich die letzten Wochen gewesen sei. Ich antwortete, ich sei zur Feldforschung in der Nähe von Kaschan[2] gewesen, um mir das Gesundheitssystem dort anzusehen. «Ich war in den ‹Gesundheitshäusern› – den Dorfkliniken, die seit der Revolution gebaut wurden, um die ländliche Bevölkerung zu versorgen.» Völlig verblüfft antworteten sie: «Auf dem Land gibt es keine Gesundheitsvorsorge! Die Regierung kümmert sich um niemanden.» Ich fragte sie, wann sie das letzte Mal in einem Dorf gewesen waren – waren sie natürlich noch nie.
Der Staat porträtiert diese urbane Schicht häufig absichtlich ähnlich …
Das soll ja nicht heißen, dass die Leute in Teheran alle abgehoben sind. Ich will sie nicht darstellen, wie der Staat es immer macht, als irgendwie «nicht iranisch» oder entrückt. Aber der Eindruck, die Proteste seien in erster Linie von Armen getragen, resultiert zumindest zum Teil aus der Art und Weise, wie einige Leute in Teheran oder Iraner*innen außerhalb des Iran die Proteste wahrnehmen. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Entbäuerlichung im Iran eine große Trennung zwischen Stadt und Land erzeugt hat.
War die Erhöhung des Benzinpreises, die zu den Novemberprotesten 2019 geführt hat, eine direkte Folge der US-Sanktionen?
Politische Entscheidungen im Iran werden häufig ex post facto analysiert, als ob jede Entscheidung aus einem rationalen Grund gefällt würde. Die meisten Beobachter*innen schenken dem Prozess politischer Entscheidungsfindung im Iran wenig Beachtung. Sobald man das tut, merkt man aber, dass der Weg von einer politischen Idee bis zu einer Entscheidung ziemlich kompliziert ist. Es gibt viele Veto-Punkte. Selbst wenn der Revolutionsführer etwas anordnet und die westliche Presse darüber berichtet, heißt es nicht, dass es am nächsten Tag direkt passiert.
Die Idee einer Preiserhöhung für Benzin war seit 2013, seit Tag eins der Rouhani-Regierung in der Diskussion. Schaut man sich mal die interne Entscheidungsfindung an, wird klar, dass es nicht nur an den Sanktionen gelegen haben kann. Die Sanktionen und sinkende Staatseinnahmen mögen den politischen Prozess in eine Richtung geschoben haben, aber der alleinige Grund waren sie sicher nicht.
Die Niederschlagung der Novemberproteste, die Tötung Qasem Soleimanis und die anfängliche Vertuschung des Flugzeugabschusses haben für erhebliche Verwerfungen im Machtapparat gesorgt. Wie schätzt Du diese Entwicklungen ein?
Wenn ich eine Prognose anstellen müsste, würde ich sagen, dass es zwei mögliche Entwicklungen gibt. Die stabile – überhaupt nicht positive – Option wäre eine Rechtsaußen-Koalition, die undemokratisch, aber stabil ist und eine Kooperation mit den Kapitalist*innen im Land eingehen kann. Vielleicht wäre dann ein Deal mit dem Westen möglich, der einige Sanktionen aufheben könnte.
Das politische Lager, das im Zuge der US-Sanktionen und der internationalen Krise an Macht gewinnt, sind die Rechtsaußen. Da gibt es gar keine Frage. Sie nutzen den internationalen Druck, um Rival*innen anzugreifen und diese aus dem politischen Prozess zu entfernen. Der Vorlauf zu den Parlamentswahlen, für die ein Großteil der moderaten Kandidaten nicht zugelassen wurde, ist ein gutes Beispiel dafür. Und obwohl das rechte Lager historisch sehr gespalten ist, scheint es im Großen und Ganzen zu gewinnen. Generell spaltet interner Druck – also Proteste und soziale Bewegungen – die Elite und schafft Raum für Mitte-Links-Kräfte. Externer Druck hingegen – also Sanktionen oder Kriegsdrohungen – vereint die politische Elite und nützt dem rechten Flügel.
Die andere, weniger stabile Entwicklung wäre wohl noch schlimmer: Keine einheitliche Regierungskoalition, mehr und mehr soziale Unruhen und ein Staat, der im Grund die Kontrollfähigkeit verliert. Es gibt viele Leute außerhalb des Iran, die das liebend gerne sehen würden, da relativ wenige Politiker tatsächlich davon ausgehen, dass ein Staatszusammenbruch zu einer wiederhergestellten, pro-amerikanischen Regierung führen würde.
Dennoch ist die Möglichkeit eines instabilen, kaputten Staates sicherlich auf der Agenda vieler Politiker*innen außerhalb des Iran. Das Problem ist, dass wir diese Entwicklung in den vergangenen zehn Jahren diverse Male haben beobachten können. Die unbeabsichtigten Folgen waren jedes Mal noch schlimmer als selbst die schlimmsten Absichten. Ich sage das nur, da wir nicht davon ausgehen können, dass der iranische Staat bei anhaltendem Sanktionsdruck der USA seine Kapazitäten aufrechterhalten kann – damit meine ich nicht repressive Fähigkeiten, wenngleich die meist die wichtigsten sind, ich meine einfach nur die mittelfristige staatliche Leistungsfähigkeit.
Der Weg hin zu einem sozialdemokratischen Iran, der politisch unabhängig ist und eine Außenpolitik macht, die Iraner*innen als Ganzes repräsentiert, ist sehr schmal und in der jetzigen Situation nur schwer auszumalen. Der einzige Möglichkeit, einen sozialdemokratischen Iran zu schaffen, den sich so viele Menschen im Land wünschen, ist für mich: Raum schaffen für interne politische Prozesse, für soziale Bewegungen; eine gespaltene politische Elite, die neue Koalitionen eingeht, die neue Stimmen und soziale Akteur*innen einschließt.
[1] Der Gini-Index – benannt nach dem italienischen Statistiker Corrado Gini - ist ein statistisches Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen. Mit dem Index kann etwa das Maß der Gleichheit oder Ungleichheit der Verteilung von Vermögen oder Einkommen beschrieben werden [Anm. der Redaktion].
[2] Stadt im zentralen Hochland des Iran [Anm. der Redaktion].