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Gespräch mit einem arabischen Linken über die Rolle von Rojava für den demokratischen Kampf in Syrien

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Podiumsdiskussion des Demokratischen Rats Syriens im Juli 2022 mit Ghayath Naissa (rechts) zur Frage «10 Jahre… wohin geht Syrien»
Podiumsdiskussion des Demokratischen Rats Syriens im Juli 2022 mit Ghayath Naissa (rechts) zur Frage «10 Jahre… wohin geht Syrien»
  Foto: Syrian Revolutionary Left Current

Ghayath Naissa ist Mitglied des Syrian Revolutionary Left Current, einer aus der syrischen Revolution hervorgegangenen politischen Organisation. Als arabische Linke verteidigen sie die Revolution in Rojava und das Experiment der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Mit ihm sprach Ansar Jasmin über die Bedeutung der kurdischen Frage für die syrische Linke.
 

Ansar Jasim: Welche Rolle hat die kurdische Frage vor 2011 für die arabische Linke in Syrien gespielt?

Ghayath Naissa: Vor der syrischen Revolution 2011 gab es zwei Hauptausrichtungen in der syrischen Linken: Eine marxistische Linke, also die offizielle Syrische Kommunistische Partei (SKP), um ihren Vorsitzenden Khalid Bakdash und alle Abspaltungen davon. Dann gab es noch die linken nationalistischen Parteien wie etwa die Arab Socialist Union, die eine nasseristische ideologische Ausrichtung hat, oder auch die linke Baath-Partei – die sogenannte 23.-Februar-Bewegung, die von Hafiz al Assad 1970 gestürzt wurde. Die nationalistischen Parteien hatten keine Solidarität mit den nicht-arabischen Minderheiten in Syrien, sie gestanden ihnen lediglich kulturelle Rechte zu. Ebenso wenig unterstützt die SKP die Rechte des kurdischen Volkes oder ihre Selbstbestimmung. Ihnen sind demnach auch Themen wie die Entrechtung von staatenlosen Kurd*innen oder das Verbot, die kurdische Sprache zu lehren, oder die Arabisierung der Namen kurdischer Städte unwichtig. Es ist absurd, die Kommunistische Partei hat sich mehrmals gespalten wegen Fragen zu Demokratie etc., aber auf der Ebene der Rechte der nicht-arabischen Ethnien in Syrien, war ihre Position eher nationalistisch als marxistisch. Bei allen ihren Abspaltungen!

Ansar Jasmin hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.

In den 70er und 80er Jahren kam es dann aus dem Umkreis dieser Linken und vieler neuer junger Linken zu zwei Phänomenen: 1976 gründete sich die Liga für Kommunistische Aktion, die dann 1980 zur Kommunistischen Aktionspartei wurde. Ihre Position zur kurdischen Frage war viel eher eine marxistische und sehr deutlich: Sie erkannten die nationalen, politischen und anderen Rechte des kurdischen Volkes an. Dann gab es noch dutzende « marxistische Kreise» (Halaqat Marxiya), die eine trotzkistische Ausrichtung hatten und keine organisatorischen Beziehungen untereinander pflegten. Ich war Teil eines solchen Kreises. Wir waren klar solidarisch mit dem kurdischen Volk und allen Völkern in Syrien. Wir unterstützten das Selbstbestimmungsrecht für Kurd*innen, also auch ihre Unabhängigkeit außerhalb eines syrischen Nationalstaates, wenn sie es denn wollten.

Die radikalen linken Bewegungen wurden massiver Verfolgung ausgesetzt, sodass sie daran auseinanderbrachen.

Nachdem Bashar Al-Assad die Macht geerbt hatte, kam es zur Bewegung des «Damaszener Frühlings». Da wurde deutlich, dass die politische Oppositionselite sich von Linken in Liberale gewandelt hatte. Dann kam es 2005 zur Damaszener Erklärung durch eine Allianz sehr unterschiedlicher politischer Kräfte. Die Linken unter ihnen hatten eine schwache Haltung zur kurdischen Sache. Das wurde bereits 2004 sehr deutlich bei der kurdischen Intifada, die keine politische Solidarität erfuhr – außer von uns. Wir waren damals wieder in kleinen marxistischen Gruppen organisiert. Unsere Position wurde von einer weiteren sehr kleinen Gruppe den «Committees for the Defense of Democratic Liberties and Human Rights»[1] geteilt.

Was für Beziehungen bestanden zwischen euch und den organisierten kurdischen Kräften in Syrien?

Wir bauten untereinander Beziehungen auf, insbesondere durch die Komitees – in denen sehr viele Kurd*innen organisiert waren. Am 8. März[2] 2004 wurde ein Protest vor dem Parlament in Damaskus organisiert, der sehr bekannt wurde. Das war eine Verbindung der kurdisch-arabischen Kämpfe. Ein historisches Ereignis.

Bei der Elite der syrischen Opposition gab es wie gesagt wenig Solidarität mit der kurdischen Sache. Unter Druck wurden die kulturellen und zivilen Rechte von Kurd*innen anerkannt, etwa in der Damaszener Erklärung – innerhalb einer syrischen nationalen Einheit.[3] Die nationalistisch-chauvinistischen Tendenzen waren und sind immer noch sehr stark in der liberalen Opposition. Das war die verbreitete Rhetorik, bis die Revolution im März 2011 ausbrach.

Als Syrian Revolutionary Left Current habt ihr euch als radikale linke Partei im Oktober 2011 gegründet. Zu Beginn der Revolution war die Rhetorik in Kreisen der Graswurzelbewegung, ein freies, demokratisches Syrien für alle zu fordern. Kurdische Selbstbestimmung hat dabei keine Rolle gespielt, auch nicht bei den Lokalen Basiskomitees in den mehrheitlich kurdischen Gebieten. Was war eure Haltung, und wie hat sie sich gewandelt?

Was die kurdische Frage angeht, so war es tatsächlich so, dass die syrische Revolution eine Massenrevolution war, die alle befreien sollte. Es ist in diesem Moment alles explodiert. Es war eine Feier für alle Unterdrückten. In unserem Gründungsdokument reden wir über die grundsätzlichen Angelegenheiten demokratischer, gesellschaftlicher Natur als auch über die Frage von Rechten der nicht-arabischen Ethnien. Wir haben das Selbstbestimmungsrecht der Kurd*innen gefordert. In der syrischen Revolution wurde aber auch deutlich, dass die Kämpfe – für Arbeiter*innen, Frauen etc. – miteinander verbunden sind: Für die absolute Befreiung aller müssen sie vereint sein.