Ghayath Naissa ist Mitglied des Syrian Revolutionary Left Current, einer aus der syrischen Revolution hervorgegangenen politischen Organisation. Als arabische Linke verteidigen sie die Revolution in Rojava und das Experiment der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien. Mit ihm sprach Ansar Jasmin über die Bedeutung der kurdischen Frage für die syrische Linke.
Ansar Jasim: Welche Rolle hat die kurdische Frage vor 2011 für die arabische Linke in Syrien gespielt?
Ghayath Naissa: Vor der syrischen Revolution 2011 gab es zwei Hauptausrichtungen in der syrischen Linken: Eine marxistische Linke, also die offizielle Syrische Kommunistische Partei (SKP), um ihren Vorsitzenden Khalid Bakdash und alle Abspaltungen davon. Dann gab es noch die linken nationalistischen Parteien wie etwa die Arab Socialist Union, die eine nasseristische ideologische Ausrichtung hat, oder auch die linke Baath-Partei – die sogenannte 23.-Februar-Bewegung, die von Hafiz al Assad 1970 gestürzt wurde. Die nationalistischen Parteien hatten keine Solidarität mit den nicht-arabischen Minderheiten in Syrien, sie gestanden ihnen lediglich kulturelle Rechte zu. Ebenso wenig unterstützt die SKP die Rechte des kurdischen Volkes oder ihre Selbstbestimmung. Ihnen sind demnach auch Themen wie die Entrechtung von staatenlosen Kurd*innen oder das Verbot, die kurdische Sprache zu lehren, oder die Arabisierung der Namen kurdischer Städte unwichtig. Es ist absurd, die Kommunistische Partei hat sich mehrmals gespalten wegen Fragen zu Demokratie etc., aber auf der Ebene der Rechte der nicht-arabischen Ethnien in Syrien, war ihre Position eher nationalistisch als marxistisch. Bei allen ihren Abspaltungen!
Ansar Jasmin hat in Marburg und London Politik und Wirtschaft Westasiens und Nordafrikas studiert. Sie beschäftigt sich mit zivilgesellschaftlicher Solidarität aus theoretischer und praktischer Perspektive mit besonderem Fokus auf Syrien und Irak.
In den 70er und 80er Jahren kam es dann aus dem Umkreis dieser Linken und vieler neuer junger Linken zu zwei Phänomenen: 1976 gründete sich die Liga für Kommunistische Aktion, die dann 1980 zur Kommunistischen Aktionspartei wurde. Ihre Position zur kurdischen Frage war viel eher eine marxistische und sehr deutlich: Sie erkannten die nationalen, politischen und anderen Rechte des kurdischen Volkes an. Dann gab es noch dutzende « marxistische Kreise» (Halaqat Marxiya), die eine trotzkistische Ausrichtung hatten und keine organisatorischen Beziehungen untereinander pflegten. Ich war Teil eines solchen Kreises. Wir waren klar solidarisch mit dem kurdischen Volk und allen Völkern in Syrien. Wir unterstützten das Selbstbestimmungsrecht für Kurd*innen, also auch ihre Unabhängigkeit außerhalb eines syrischen Nationalstaates, wenn sie es denn wollten.
Die radikalen linken Bewegungen wurden massiver Verfolgung ausgesetzt, sodass sie daran auseinanderbrachen.
Nachdem Bashar Al-Assad die Macht geerbt hatte, kam es zur Bewegung des «Damaszener Frühlings». Da wurde deutlich, dass die politische Oppositionselite sich von Linken in Liberale gewandelt hatte. Dann kam es 2005 zur Damaszener Erklärung durch eine Allianz sehr unterschiedlicher politischer Kräfte. Die Linken unter ihnen hatten eine schwache Haltung zur kurdischen Sache. Das wurde bereits 2004 sehr deutlich bei der kurdischen Intifada, die keine politische Solidarität erfuhr – außer von uns. Wir waren damals wieder in kleinen marxistischen Gruppen organisiert. Unsere Position wurde von einer weiteren sehr kleinen Gruppe den «Committees for the Defense of Democratic Liberties and Human Rights»[1] geteilt.
Was für Beziehungen bestanden zwischen euch und den organisierten kurdischen Kräften in Syrien?
Wir bauten untereinander Beziehungen auf, insbesondere durch die Komitees – in denen sehr viele Kurd*innen organisiert waren. Am 8. März[2] 2004 wurde ein Protest vor dem Parlament in Damaskus organisiert, der sehr bekannt wurde. Das war eine Verbindung der kurdisch-arabischen Kämpfe. Ein historisches Ereignis.
Bei der Elite der syrischen Opposition gab es wie gesagt wenig Solidarität mit der kurdischen Sache. Unter Druck wurden die kulturellen und zivilen Rechte von Kurd*innen anerkannt, etwa in der Damaszener Erklärung – innerhalb einer syrischen nationalen Einheit.[3] Die nationalistisch-chauvinistischen Tendenzen waren und sind immer noch sehr stark in der liberalen Opposition. Das war die verbreitete Rhetorik, bis die Revolution im März 2011 ausbrach.
Als Syrian Revolutionary Left Current habt ihr euch als radikale linke Partei im Oktober 2011 gegründet. Zu Beginn der Revolution war die Rhetorik in Kreisen der Graswurzelbewegung, ein freies, demokratisches Syrien für alle zu fordern. Kurdische Selbstbestimmung hat dabei keine Rolle gespielt, auch nicht bei den Lokalen Basiskomitees in den mehrheitlich kurdischen Gebieten. Was war eure Haltung, und wie hat sie sich gewandelt?
Was die kurdische Frage angeht, so war es tatsächlich so, dass die syrische Revolution eine Massenrevolution war, die alle befreien sollte. Es ist in diesem Moment alles explodiert. Es war eine Feier für alle Unterdrückten. In unserem Gründungsdokument reden wir über die grundsätzlichen Angelegenheiten demokratischer, gesellschaftlicher Natur als auch über die Frage von Rechten der nicht-arabischen Ethnien. Wir haben das Selbstbestimmungsrecht der Kurd*innen gefordert. In der syrischen Revolution wurde aber auch deutlich, dass die Kämpfe – für Arbeiter*innen, Frauen etc. – miteinander verbunden sind: Für die absolute Befreiung aller müssen sie vereint sein.
Wie stehen für dich die syrische Revolution und die Revolution in Rojava vom Juli 2012 im Zusammenhang?
Die syrische Revolution hat die Eckpfeiler des Regimes zum Wanken gebracht und zu einem Großteil geschwächt. Es ist nicht gefallen – aufgrund der ausländischen Einmischung und der Abwesenheit einer starken revolutionären Führung –, aber ausreichend geschwächt worden, um der am besten organisierten politischen kurdischen Kraft zu erlauben, Gebiete zu befreien. D.h., wir haben ein großartiges, aber sehr schmerzvolles Paradox in der syrischen Revolution: Sie wurde auf der einen Seite besiegt, konnte aber auf einer anderen Seite siegen.
Wenn wir uns die Zeugnisse von kurdischen Aktivist*innen aus der Zeit anhören, dann liefen die Bemühungen um Zustimmung durch die Partiya Yekîtiya Demokrat (dt. Partei der Demokratischen Union), PYD, nicht immer mit demokratischen Methoden ab. Wie habt ihr das wahrgenommen?
Die Revolution in Rojava stand unter der politischen Führung einer Massenpartei, die die wichtigste Partei der nationalen kurdischen Bewegung in Syrien ist. Sie hat eine politische Vision, ein politisches Projekt und eine Massenbasis. Es gibt hier einen klaren Unterschied zum Nichtvorhandensein eines politischen Projekts und fehlender Führung in den anderen Gegenden Syriens.
Das ist die Realität, mit der es umzugehen gilt. Die zweite wichtige Entwicklung ist, dass die nationalen kurdischen Parteien, die in Opposition zum Experiment der PYD in Syrien stehen, in ihrer Vision zur nationalen Frage traditionell sind. Das heißt, sie sind für ein Kurdistan als Nationalstaat. Die PYD aber ist für eine «demokratische Nation» (umma dimuqratiya) mit Konföderalismus der einzelnen Nationen (ummam) – mit der Freiheit der Völker ohne einen Nationalstaat. Folglich – und hier liegt der Widerspruch – wird der PYD die Kritik entgegengebracht, dass sie nicht mehr kurdisch genug sei. Hinzu kommt, dass Rojava ein gemeinsames Projekt von verschiedenen kurdischen Parteien war. Einige haben sich dann daraus zurückgezogen, weil ihre politische Loyalität näher bei den Parteien der Autonomieregion Kurdistan-Irak lag, und dort gibt es eigene politische Interessen bezüglich der Selbstverwaltung, die wiederum regionalen Charakter haben.
Das Problem ist nun also, dass es einen Konflikt innerhalb der nationalen kurdischen Bewegung gibt. Wir als Araber*innen in Syrien unterstützen natürlich den kurdisch-kurdischen Dialog und dass sie ihre Konflikte konstruktiv austragen, denn, wenn sie in diesem Zustand des inneren Konflikts bleiben, dann hat das Auswirkungen auf unseren gemeinsamen Kampf, den Kampf für Demokratie und für die Rechte des kurdischen Volkes und der Syrer*innen im Allgemeinen.
Wie war das, als ihr als Revolutionary Syrian Current beschlossen habt, Teil dieses Projekts zu werden, was waren die Diskussionen und auch Auseinandersetzungen?
Das war Ende 2019. Erstens hatte sich die Niederlage der syrischen Revolution manifestiert. Zweitens gab es die Zerrissenheit der liberalen, verkrusteten, sektiererischen Opposition, die ein Söldnerverhältnis zu den externen regionalen Mächten hat und eine chauvinistische und konfessionalistische Rhetorik fuhr. Drittens gab es eine türkische Militäroperation und die Besetzung von Gebieten in Syrien und insbesondere kurdischen Gebieten. Genau in diesem Moment der drohenden Niederschlagung dieses Experiments haben wir uns entschieden, unseren Eintritt in den Demokratischen Rats Syriens (DRS)[4] zu erklären. Es gab dann eine für die politische Arbeit in Syrien sehr wichtige Stellungnahme von uns und dem DRS. Zum ersten Mal in der Geschichte Syriens gibt es eine große politische Allianz aus circa 30 Parteien, die ein großes Gebiet in Syrien kontrollieren, die ein gemeinsames Statement herausgeben mit der gleichzeitigen Erklärung, dass «alle beteiligten Gruppen ihre geistige, organisatorische und politische Eigenständigkeit» behalten.
Es geht um demokratische Angelegenheiten, gesellschaftliche Gerechtigkeit, Wiedervereinigung und Befreiung des Landes – ganz grundsätzliche Dinge.
Welche Rolle kommt der Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien für die Zukunft von ganz Syrien aus eurer Sicht zu?
Unsere Einschätzung ist, dass die Existenz der Selbstverwaltung existenziell ist für einen demokratischen Übergang. Wenn wir die Selbstverwaltung jetzt aus der politischen Gleichung in Syrien herausnähmen, was bliebe dann übrig? Das Regime, Russland, Iran und die Türkei. Wenn diese Mächte also zustimmen würden, uns ein neues politisches System im Sinne der sogenannten politischen Lösung zu geben, welche Ausrichtung würde das dann haben? Sie nähmen ein paar Muslimbrüder und ein paar Leute aus dem Regime. Das ist eine Reproduktion des Regimes. Die Existenz der Selbstverwaltung macht die Reproduktion des Regimes unmöglich. Zwar ist die syrische Revolution besiegt, aber die Selbstverwaltung existiert noch. Ihre Existenz verlangt jedem politischen Deal für Syrien demokratische Zugeständnisse ab.
Wir finden, dass die Kämpfe vereint werden müssen in den drei Regionen Nordost, Nordwest und denen unter Regimekontrolle. Die Bedingungen in den Gegenden der Selbstverwaltung lassen es zu, dass diese ein Ausgangspunkt für die Reorganisierung unserer Kräfte sein kann. Rojava ist eine Chance, um unseren Kampf fortzusetzen.
Was ist mit progressiven Akteuren in anderen Gebieten Syriens?
Wir als Partei sind in allen Gebieten Syriens unter sehr unterschiedlichen Bedingungen aktiv. Wir wissen, dass es immer noch progressive anti-autoritäre und anti-islamistische Akteur*innen in all diesen Gegenden gibt. Das reicht aber nicht.
Siehst du auch kritische Aspekte in der Politik der Selbstverwaltung?
Zunächst müssen wir betonen, was gut läuft: Es gibt Stabilität, Vielfalt, Raum für kulturelle und politische Aktivitäten. Für uns heißt das real, dass wir zum ersten Mal offene politische Arbeit ausprobieren können innerhalb Syriens.
Es gibt viele Herausforderungen und Widersprüche. Etwa der aufgeblasene bürokratische Apparat, die schwachen Beteiligungsmöglichkeiten an politischen Prozessen und bestimmte gesellschaftliche Aspekte. Die Selbstverwaltung hat auf vieles keine angemessene Antwort. Aber gleichzeitig ist ihnen das klar. Es gibt Widersprüche, und diese haben eine objektive und eine subjektive Ebene. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, dazu beizutragen, dass sich dieses Experiment weiterentwickeln kann. Wir müssen kritisieren, wenn es Fehler gibt, aber auch alternative Praxen aufzeigen. Ansonsten stürzt mit dem Druck von außen und der Kritik von innen alles zusammen, und dann sind wir alle Teil des Scheiterns.
Wie sollte aus deiner Sicht internationalistische Solidarität aussehen?
Solche Experimente brauchen definitiv Solidarität und Unterstützung der internationalen Linken, denn der Klassenkampf ist ein weltweiter Kampf. Nur mit internationalen Solidaritätsnetzwerken kann das Experiment der Selbstverwaltung und die Befreiung des kurdischen und syrischen Volkes von Autoritarismus, Ausbeutung und Besatzung gelingen.
[1] 1989 gegründet, kümmerten sich die Komitees um die Verteidigung politischer Gefangener.
[2] Der 8. März ist ebenfalls Gründungstag der Baath-Partei. Bei dem Protest wurden politische Reformen und die Freilassung aller politischen Gefangenen, unter ihnen viele kurdische Politiker*innen, gefordert. Berichten zufolge wurden bei dem Protest mehr als 700 Personen verhaftet.
[3] Einige Oppositionelle wie Anwar Al-Bunni oder Damal Al-Labwani waren der Idee des Föderalismus gegenüber offen. Ersterer wurde im Mai 2006 verhaftet, nachdem er die Damaszener Erklärung unterschrieben hatte.
[4] Der Demokratische Rat Syriens ist der politische Arm der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) in der Autonomen Administration von Nord- und Ostsyrien. Zur Selbstdarstellung siehe «Hintergrund: Demokratischer Rat Syriens», junge Welt vom 14.09.2021.