«Während der Wandel von Gesellschaften durch Migration ein oft behandeltes Thema ist», so Volker M. Heins und Frank Wolff in ihrem gerade erschienenen Buch HINTER MAUERN, «haben sich nur wenige mit dem Thema beschäftigt, wie sich Gesellschaften verändern, wenn sie Migration mit immer massiveren Mitteln abwehren.»
Was bedeutet es, wenn demokratische Staaten undemokratische Grenzen errichten? Was bewirkt es, wenn wir die Toten nicht sehen wollen? Sind geschlossene Grenzen – wie uns viele Politiker glauben machen wollen – ein notwendiges Übel der offenen Europäischen Union? Wie sickerte das Verbrechen des Rassismus in das europäische Versprechen? Dem geht HINTER MAUERN auf mehreren Ebenen nach, von der europäischen Einigungsgeschichte unter kolonialen Vorzeichen bis zur gegenwärtigen Verselbständigung der Grenzagenturen und Abschottungslogiken.
Seit den 1990er Jahren entwickelte sich das Mittelmeer zur gefährlichsten Grenze der Welt und nach UN-Angaben steigt die Zahl von Menschen auf der Flucht dramatisch, was wir kurz nach dem Weltflüchtlingstag anhand aktueller Zahlen diskutieren.
Seit 2014 starben weltweit weit über 52.000 Personen bei Versuchen, ohne gültiges Visum oder Aufenthaltserlaubnis in ein Land einzureisen, dessen Staatsangehörigkeit sie nicht besitzen. Zivile Seenotretter, die kriminalisiert werden, versuchen, Lücken zu füllen. So zum Beispiel SOS Méditerranée mit Hauptsitz in Marseille.
Als die südfranzösische Stadt 2013 Kulturhauptstadt Europas war, erinnerte man an die Flucht vieler während des Zweiten Weltkriegs. In Migrantenvierteln konnte man Orte aus Anna Seghers Meisterwerk TRANSIT aus den 1940ern aufsuchen und begegnete dabei Flüchtlingen von heute. In einem ungeheuren Akt der Vergegenwärtigung verfilmte deshalb Christian Petzold den Roman 2018 als Geschichte aus der Gegenwart. Mittlerweile ist Marseille zu einem Erinnerungsort von Flucht und Ankommen geworden. So ist seit April 2023 auf netflix die 1. Staffel von TRANSATLANTIC zu sehen, die auf den Rettungsversuchen des markanten Varian Fry beruht.
Der legendäre Fluchthelfer tritt in Jean Malaquais' PLANET OHNE VISUM als eine der Hauptfiguren auf. Der bereits 1947 erschienene, erst jetzt von Nadine Püschel übersetzte Roman machte den hierzulande kaum bekannten Jahrhundertautor verspätet zur literarischen Sensation. Jean Malaquais passte nicht ins geteilte Deutschland. Als Antistalinist war er für die DDR untragbar, als entschiedener Linker fiel er auch durch die Raster in der Bundesrepublik. Die Bekanntschaft mit diesem Klassiker erfolgt auch heute nicht durch einen der finanzkräftigen Branchenriesen, sondern durch die kleine, aber immer wieder bemerkenswerte Edition Nautilus.
«Die Einteilung in gute und schlechte Flüchtlinge, die Hierarchien des Überlebens und des Leidens, die Malaquais beschreibt, sind nicht gänzlich übertragbar, aber es gibt Kontinuitäten», sagte Fabian Wolff als einer der begeisterten Rezensenten im Deutschlandfunk. Ungebrochen aktuell ist für ihn der «aufflammende rebellische Geist, der sich gegen das scheinbar völlig normale Unrecht auflehnt.»
- Nadine Püschel studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf und lebt als Übersetzerin für englisch- und französischsprachige Literatur und audiovisuelle Medien in Berlin. Sie übersetzte «Planet ohne Visum» (Edition Nautilus) und schrieb ein Nachwort, das uns den Jahrhundertautor Jean Malaquais näherbringt.
- Frank Wolff ist Privatdozent für Neuere und Neueste Geschichte und Mitglied des Instituts für Migrationsforschung und Interkulturelle Studien an der Universität Osnabrück. Ab Sommer leitet er die Forschungsgruppe «Internalizing Borders» am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld. Gerade erschien sein Buch «Hinter Mauern» (Co-Autor Volker M. Heins) bei Suhrkamp.
- Achim Engelberg, Publizist und Buchautor, moderiert die Reihe; zuletzt erschien «An den Rändern Europas» (DVA/Penguin Random House) über Geflüchtete gestern und heute.
Geschichten von Fliehenden ähneln den Botenberichten des klassischen Dramas: In ihnen verdichten sich planetarische Konflikte, gestern wie heute. Bereits Bertolt Brecht, der vom sowjetischen Wladiwostok im Juni 1941 den Pazifik überquert hatte und im kalifornischen Santa Monica angekommen war, sah «auf dem letzten Boot» eine neue «Landschaft des Exils», so der Titel seines Ankunftsgedichts, in dem er sich und seinesgleichen als «Boten des Unglücks» bezeichnete. Als solche sind Flüchtlinge nicht nur Seismographen einer Epoche, die von jeher durch historische Ereignisse und Unglücke gekennzeichnet ist, sondern sie prägen zunehmend die Erinnerungskulturen in den großen Städten, die dem Turm von Babel ähneln. Oft flieht man dorthin, wohin andere zuvor ausgewandert sind.
Die bisherigen Veranstaltungen der Reihe «Seismographen des Wandels» sind auf unserer Website dokumentiert: Teil 1 | Teil 2 | Teil 3 | Teil 4 | Teil 5 | Teil 6 | Teil 7 | Teil 8 | Teil 9
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Dr. Uwe Sonnenberg
Referent für Zeitgeschichte und Geschichtspolitik, Rosa-Luxemburg-Stiftung
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