Dokumentation Irak nach den Wahlen: Die Ziele der Kurden im Verfassungsprozess

Parteivertreter und Wissenschaftftler der iraktischen Kurden erörtern die Situation in den kurdischen Gebieten des Irak und ihre Vorstellungen für die künftige Gestaltung des Landes.

Information

Zeit

06.04.2005

Podiumsgespräch mit

  • Dilshad Barzani (Deutschland-Vertreter der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Arbil und der Demokratischen Partei Kurdistans)
  • Dr. Ahmad Berwari (Deutschland-Vertreter der Regionalregierung Kurdistan-Irak in Sulaimania und der Patriotische Union Kurdistans)
  • Dr. Sabah Alnasseri (Politikwissenschaftler)

Moderation:

  • Evrim Baba (Mitglied des Abgeordnetenhauses von Berlin)
  • Florian Weis (Rosa-Luxemburg-Stiftung)

Bei den Wahlen zur irakischen Nationalversammlung am 30. Januar 2005 hat die Allianz Kurdistans 75 der 275 Sitze errungen und wurde damit zweitstärkste Kraft nach der Vereinigten Irakischen Allianz der Schiiten.

Aufgabe der Nationalversammlung ist die Verabschiedung einer neuen Verfassung innerhalb dieses Jahres, danach soll ein neues Parlament gewählt werden.

Über die Bewertung der Wahlen gibt es unterschiedliche Auffassungen. Die Überwindung des Baath-Regimes scheint definitiv zu sein. Weniger sicher ist, ob diese Wahlen unter den Bedingungen von amerikanischer Besatzung, Gewalt und Instabilität wirklich einen Beitrag für einen neuen Konsens der irakischen Gesellschaft leisten konnten. Über die weitere Entwicklung entscheiden nicht nur die USA, sondern auch die arabisch-schiitische Mehrheit und die kurdischen Parteien im Irak. Viel wird davon abhängen, ob die Einbindung der arabisch-sunnitischen Bevölkerungsgruppe in den politischen Prozess gelingt, nachdem diese der Wahl mehrheitlich fern blieb.

Mit den Vertretern der beiden großen kurdischen Parteien im Irak und den aus dem Irak stammenden Wissenschaftler Sabah Alnasseri sollte erörtert werden, welche Vorstellungen sie für eine künftige Gestaltung des Irak haben und welche Aussichten sie sehen, diese in den Verfassungsprozess einzubringen. Zweites Thema war die Situation in den kurdischen Gebieten des Irak sein: Wie entwickelt sich dort das wirtschaftliche und soziale Leben, welche gesellschaftlichen Reformen sind in Angriff genommen worden – oder stehen noch aus? Ferner wollten wir diskutieren, welche Erwartungen die kurdischen Parteien an die deutsche und europäische Politik haben, und welche künftige Rolle der USA im Mittleren Osten sie anstreben. 

Als die RLS, die PDS-Fraktion im Abgeordnetenhaus und der Deutsch-Kurdische Freundschaftsverein im Dezember 2002, also gut 3 Monate vor der US-amerikanischen Intervention im Irak, eine Veranstaltung „Irak: die Kurden und der Krieg“ durchführten, ging es sehr emotional und kontrovers zu. Für einige der irakischen KurdInnen, aber auch andere Gegner des damaligen Regimes, stand die Überwindung des Saddam-Regimes im Vordergrund, das sie verfolgt und unterdrückt hatte. Für andere TeilnehmerInnen, etwa aus der deutschen Friedensbewegung, aber auch für türkische KurdInnen, war die Ablehnung eines Krieges der USA gegen den Irak das zentrale Anliegen, weil sie prinzipiell einen Krieg ablehnten und Sorgen vor einer Destabilisierung und einer immer größeren Hegemonie der USA hatten. Im Vergleich zur damaligen Veranstaltung ging es im April 2005 ausgesprochen ruhig zu, als rund 40 Anwesende über die Situation im Irak nach den Wahlen vom 30. Januar 2005 und auf dem Wege zu einer Verfassung diskutierten.

Die Veranstaltung bekam durch die Wahl des Kurden Jalaal Talabani von der PUK am gleichen Tag zum irakischen Staatspräsidenten durch die Nationalversammlung eine besondere Aktualität.

Sabah Alnasseri wandte sich in seinen Ausführungen gegen die verbreitete Auslegung der irakischen Konflikte vorwiegend entlang ethno-religiöser Gruppenzuordnungen („Schiiten“, Sunniten“, „Kurden“). Demgegenüber müssten unterschiedliche politische, soziale und ökonomische Interesse und Positionen stärker beachtet werden. So sei etwa die (schiitische) „Irakische Allianz“, der Wahlsieger des 30. Januar, nicht einheitlich und keineswegs vollständig religiös-antisäkular ausgerichtet. Einen „Gottesstaat“ hält Alnasseri, wie auch die kurdischen Repräsentanten Berwari (PUK) und Barzani (KDP) für äußerst unwahrscheinlich. Dilshad Berzani, Vertreter der Regionalregierung Kurdistan-Irak (Arbil) und der Kurdischen Demokratischen Partei in Deutschland erklärte für diesen Fall die Abtrennung der kurdischen Gebiete von einem solchen irakischen Staat.

Für Alnasseri sind vor allem die schlechte soziale und wirtschaftliche Lage vieler IrakerInnen und die mangelnde Unabhängigkeit der bisherigen irakischen Institutionen die Hauptprobleme des Landes, die den Nährboden für zumindest einen beträchtlichen Teil der Gewalt und des Widerstandes im Irak bildeten. Von zentraler Bedeutung sind daher seines Erachtens stabile lokale, regionale und nationale Institutionen, die eine wesentlich auf die Öleinnahmen gestützte Wirtschafts- und Entwicklungspolitik mit sozialer Absicherung schaffen und gleichzeitig ihre Unabhängigkeit von den USA und ihren Verbündeten erhöhen müssten.

Ein hart neoliberaler Kurs und eine Privatisierung des Öls wären einen Katastrophe für den Irak, da sowohl die wirtschaftliche Aufbauaufgaben als auch die soziale Grundsicherung breiter Schichten der Bevölkerung an den Öleinnahmen hänge. Umgekehrt biete der Irak auch die Chance, mit einem staatszentrierten Akkumulationsprozess, wie er in den meisten arabischen Ländern vorherrsche, zu brechen.  

Dilshad Barzani und Ahmad Berwari hoben hervor, dass sie zwar einen gewissen juristischen bzw. symbolischen Eigentumsanspruch des in den kurdischen Gebieten vorhandenen Öls für die kurdischen Institutionen beanspruchten, die Einnahmen aus dem Ölgeschäft jedoch allen Teilen des Irak zu Gute kommen sollten. 

Ein wichtiger Beitrag zur Erhöhung der Legitimität und Akzeptanz der neuen Regierung und Institutionen könnte nach Alnasseri ein energisches Drängen der neuen Regierung auf einen mittelfristigen, überprüfbaren Abzugsplan der amerikanischen und anderen ausländischen Truppen und privaten Sicherheitsfirmen sein. Alleine die sich darin ausdrückende Unabhängigkeit der neuen Regierung und die Aussicht auf einen, wenn auch nicht unbedingt schnellen, Abzug der USA könnten einen Teil des irakischen Widerstandes, wenn auch längst nicht alle militanten und terroristischen Gruppen, zu einer Abkehr von der Gewalt veranlassen. Dazu gehöre auch ein nationaler Dialog mit Teilen der jetzt in scharfer Opposition zu den USA und den Übergangsinstitutionen stehenden Akteure.                         

Dilshad Barzani machte deutlich, dass für die irakischen Kurden der Krieg 2003 ein Befreiungskrieg gewesen sei, auch wenn ihm bewusst sei, dass dies im Publikum teilweise ganz anders gesehen werde. Aus bitteren Konflikten und Erfahrungen sei die jetzige kurdische Einheit besonders wichtig und positiv zu werten. Wie sein Kollege Berwari erklärte auch Barzani, dass ein föderaler, bei aller islamischen Grundprägung dennoch säkularer, auf Gleichberechtigung fußender demokratischer Irak das Ziel der Kurden sei. Eine Auflösung der kurdischen Milizen komme noch nicht in Frage, da noch kein ausreichendes Vertrauen in die Unumkehrbarkeit der föderal-demokratischen Entwicklung des Irak bestehe. Eine Rückkehr aller Vertriebenen, eine Aufhebung der Arabisierungs-Maßnahmen des alten Regimes und eine Dominanz der KurdInnen in ihren angestammten Gebieten waren weitere Forderungen von Barzani.  

Ahmed Berwari verwies darauf, dass neben der dominierenden „Kurdischen Allianz“ von PUK und KDP auch andere, kleinere Strömungen unter den KurdInnen existierten. Dies sei zum einen die „Referendumsbewegung“, die sich auf Intellektuelle und NGO’s stütze und  eine Perspektive der völligen Unabhängigkeit Kurdistans fordere. Diese Position sei gegenwärtig klar in der Minderheit, könne aber stark an Bedeutung gewinnen, wenn der künftige Irak sich zentralistisch und religiös-theokratisch entwickeln würde. Zum anderen gebe es kleine politisch-islamische Gruppen auch unter den KurdInnen.

In der Diskussion kamen Fragen, Beiträge und punktuell auch Kritik zum Ausmaß der innerkurdischen Einigkeit und Reformwilligkeit, die teilweise angezweifelt wurden, zum Anspruch der KurdInnen auf bestimmte Gebiete und zur Rückumsiedlung von arabischen Irakern zur Sprache. Weitere Diskussionspunkte waren die Rolle der deutschen und europäischen Politik und Auswirkungen der irakischen Entwicklung auf die arabische Welt.

Ahmad Berwari bat linke Organisationen in der Bundesrepublik aus einem aktuellen Anlass einer Veranstaltung in Berlin, zu der ursprünglich auch PDS-VertreterInnen aufgerufen hatten, um eine größere Sensibilität bei der Einbeziehung von Akteuren, die etwa eng mit dem alten Baath-Regime oder mit terroristischen Gruppen verbunden seien.

Aus Sicht der RLS als Veranstalterin bleibt festzuhalten, dass eine ruhige und sachliche Debatte über die Situation und Entwicklung im Irak möglich ist, auch wenn die Bewertung der US-Intervention von 2003 durch die drei veranstaltenden Organisationen sicherlich anders als von Dilshad Barzani gesehen wird. In Zukunft sollte verstärkt nach sozialen, ökonomischen und politisch-ideologischen Positionen und Akteuren und weniger ausschließlich nach ethnischen, religiösen und nationalen Zuordnungen des Irak-Konflikts geschaut werden, wie Sabah Alnasseri dies dargelegt hatte. Im Ergebnis der Veranstaltung ergab sich ein differenziertes Bild der Lage im Irak, das weder unkritisch-positiv im Sinne einer US-freundlichen Sichtweise noch ausschließlich negativ ausfiel, sondern durchaus Ansatzpunkte für eine  - wenn auch langsame und gefährdete - demokratische Entwicklung im Irak aufzeigte.

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Evrim Baba (evrim.baba@pds.parlament-berlin.de, 030  - 23 25 25 59)

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Florian Weis (weis@rosalux.de; 030 – 2978 1164)