Dokumentation Organisierung der Unorganisierbaren: ein Erfahrungsaustausch

Bericht über eine Besuchswoche eines langjährigen Projektpartners der RLS aus Chile

Information

Veranstaltungsort

KATO
U-Bhf Schlesisches Tor
10999 Berlin

Zeit

09.09.2008

Mit

Daniel Nunez, Direktor von ICAL (Forschungsinstitut Alejandro Lipschutz)

Themenbereiche

Ungleichheit / Soziale Kämpfe, International / Transnational

Der 35. Jahrestag des Putsches in Chile, der diesjährige 100. Geburtstag Salvador Allendes, aber vor allem auch die für uns wichtigen Erfahrungen, die in Chile im Widerstand gegen die fortschreitende Neoliberalisierung des Landes in den letzten Jahren gewonnen werden konnten, waren für uns der Anlass, Daniel Nuñez, Soziologe und Leiter von ICAL (Instituto des Ciencias Alejandro Lipschütz) in Chile für eine Woche nach Deutschland einzuladen. Das Institut, ein langjähriger Projektpartner der RLS,  besteht bereits seit 1983 und arbeitet vor dem Hintergrund der weitgehend deregulierten Wirtschaft Chiles hauptsächlich zu  Arbeitsbedingungen, sowie gewerkschaftlichen Strategien in den exportintensiven Wirtschaftssektoren wie der Kupfer- und Lachsindustrie. Besondere öffentliche Aufmerksamkeit kam ihm zu, als es Klagen wegen menschenunwürdiger Arbeitsbedingungen gegen zwei Unternehmen der Lachindustrie beim lateinamerikanischen Völkertribunal einreichte. Seit 2003 unterstützt die Rosa-Luxemburg-Stiftung  ICAL im Aufbau einer Gewerkschaftsschule vor Ort.

Die Rolle transnationaler Unternehmen im globalen Wertschöpfungsprozess ist ein zentrales Thema für die Rosa-Luxemburg-Stiftung und war auch bei dem Besuch von Daniel Nuñez von besonderem Interesse, da Chile als weltgrößter Lachsexporteur vor allem Europas Märkte mit seinen Gütern ausstattet und Unternehmen wie das norwegische Marine Harvest chilenische ArbeiterInnen mit Dumpinglöhnen ausbeuten. Besondere Aufmerksamkeit sollte hierbei der strategischen Ausrichtung und Organisierung des Widerstandes gegen solche global agierende Wirtschaftsakteure in Deutschland und Chile zukommen: Der wechselseitige Austausch über die Vernetzung zwischen Parteien, sozialen Bewegungen und Gewerkschaften (deren Strategien hier und dort) sowie Informationen über die aktuelle politische Situation beider Länder.

Vor diesem Hintergrund gestaltete sich das einwöchige Besuchsprogramm sehr vielfältig: Den Startpunkt markierte ein Videointerview mit LaborB, einem Zusammenschluss von VideoaktivistInnen und Filmschaffenden, die u.a. das jährlich in Berlin stattfindende Dokumentarfilmfestival „globale“ organisieren. Ihr Fokus ist die Thematisierung von Arbeitsbedingungen weltweit, um zu einer realen und internationalen Vernetzung von (gewerkschaftlichen) Projekten beizutragen und eine Brücke von Politik und gerade auch klassischer gewerkschaftlicher Politik zu anderen, neuen, medial vermittelten Widerstandsformen zu schlagen.  Umfangreiche Informationen über die Lage der deutschen Gewerkschaften lieferte ein anschließendes Treffen mit Wolfgang Lutterbach, Leiter der Abteilung für internationale und europäische Gewerkschaftspolitik beim DGB-Bundesvorstand.

Einen besonderen Höhepunkt stellte der Besuch eines Betriebes des transnationalen Unternehmens Coca Cola in Frankfurt/Main und der damit verbundene Austausch mit dem dortigen Betriebsratsvorsitzenden, sowie Vertretern der Gewerkschaft Nahrung- Genuss-Gaststätten (NGG) dar.

Am Ende der Woche stand ein Treffen im Bundestag mit Referentinnen der Fraktion DIE LINKE auf dem Programm. Corinna Genschel (Kontaktstelle soziale Bewegungen) und Johanna Bussemer (Referentin für Außenpolitik) konnten hierbei einen Einblick in das Zusammenwirken der Schnittstellen zwischen der Partei, den sozialen Bewegungen und den Gewerkschaften geben. Insbesondere der Austausch über das Hereintragen von Anliegen der sozialen Bewegungen in die Parteien stand dabei im Mittelpunkt. Den Schlusspunkt setzten ein Interview mit der Zeitschrift Lateinamerika- Nachrichten und anschließend ein Treffen mit Sarah Bormann, einer Vertreterin der NGO WEED (World Economy, Ecology & Development) und freien Mitarbeiterin von ver.di. Gesprächsthemen waren hier das Projekt „PC global“ (im Rahmen dessen die RLS zusammen mit WEED im Dezember 2006 zwei chinesische KollegInnen zu einer Informations- und Veranstaltungsreise nach Deutschland eingeladen hatte) sowie die LIDL-Kampagne, die von Sarah Bormann im Auftrag von ver.di wissenschaftlich begleitet wurde. Der zentrale Fokus lag dabei auf der Schnittstelle NGO/Gewerkschaften.

Neben den zahlreichen internen Treffen fanden an den Abenden natürlich auch Veranstaltungen statt, die Daniels Einschätzungen zur aktuellen Lage in Chile der Öffentlichkeit zugänglich machen sollten. So gab es zwei Veranstaltungen in Kooperation mit der Chile- Freundschaftsgesellschaft Salvador Allende e.V. zur politischen Situation in Chile, den Diskussionen im Rahmen der Jahrestage des 11.09.1973 und des 100. Geburtstages Allendes. Des Weiteren hat die RLS in Berlin (in Kooperation mit dem Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile- Lateinamerika) sowie in Frankfurt a.M. Abendveranstaltungen zu den Arbeitsbedingungen in der chilenischen Kupfer-  und Lachsindustrie organisiert (siehe Ankündigung unten).

Was bleibt?

Das mit ICAL durchgeführte Projekt hat zum Einen gezeigt, dass die Projektförderung im Rahmen der internationalen Arbeit der RLS keine Einbahnstraße ist, sondern auf gegenseitigem Lernen und einem wechselseitigen Erfahrungsaustausch beruht. So ist eine Fortsetzung schon für das nächste Jahr im Rahmen einer Einladung von ICAL zu einer Konferenz nach Chile geplant. Zum Anderen können die in Chile geglückte Organisierung von LeiharbeiterInnen, die zunehmende Zahl an weiblichen Aktivistinnen und deren in Eigenregie gestalteten Streiks in Deutschland als wertvolles Wissen zur Organisierung im Bereich des Prekären weiterverwertet werden.

Denis Neumann studiert Politikwissenschaft und Soziologie in Osnabrück und hat im Rahmen eines zweimonatigen Praktikums den Besuch von Daniel Nuñez organisiert und inhaltlich mitbegleitet.

Veranstaltungsankündigung:

»Chile: Globale Arbeit und Prekarisierung«

Die chilenischen Gewerkschaften sind in der Pinochet-Diktatur gründlich zerschlagen worden und heute erheblich zersplittert und geschwächt. Landesweit gibt es über 14.000 Betriebsgewerkschaften und Branchengewerkschaften - der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer ist heute mit knapp 10% sehr niedrig. Dies liegt nicht zuletzt auch daran, dass wesentliche Bestimmungen der während der Militärdiktatur 1979 erlassenen Arbeitsgesetze, die einen tief greifenden Wandel der Arbeitsbeziehungen zementierten, weiterhin fortbestehen. Zwar wurden mit dem im Dezember 2001 verabschiedeten Gewerkschaftsgesetz einige Beschränkungen aus der Pinochet-Ära abgeschafft, doch sind in der Praxis etliche gewerkschaftsfeindliche Praktiken ungebrochen. Insbesondere wurde die hochgradige Deregulierung und Flexibilisierung der Arbeitsbeziehungen noch weiter ausgebaut. Tatsächlich nimmt Chile mit der so genannten „Anpassung der Arbeitsgesetze an moderne Erfordernisse“ bei Outsourcing, Privatisierung und Prekarisierung eine Vorreiterrolle ein.

Zeit- und Leiharbeit sind die beiden prominentesten Phänomene dieser stetigen Entwicklung. Besonders das sog. „Outsourcing“ (Verlagerung in Subunternehmen) von Arbeitskräften hat während der Regierung der „Koalition der Parteien für die Demokratie“ (1990-2007) stark zugenommen. Betroffen davon sind vor allem Frauen und Berufsanfänger/innen im Exportsektor wie der Kupfer- und Lachsindustrie, der Forst- und Landwirtschaft. Besonders für die in diesen prekarisierten Branchen Arbeitenden ist angesichts der staatlich geförderten Definitionsmacht der Arbeitgeberseite über die Arbeitsbeziehungen gewerkschaftliche Organisierung oftmals schlicht unmöglich. Dennoch fanden vor dem Hintergrund unterschiedlicher gewerkschaftlicher Re-Organisationsansätze der letzten Jahre in 2007 eine Vielzahl von wichtigen Streiks statt, die für große öffentliche Aufmerksamkeit sorgten. So hatten z.B. die Streiks der Forstarbeiter der Provinz Arauco sowie der Vertragsarbeiter von Codelco, dem größten staatlichen Kupferunternehmen der Welt, große Ausstrahlung auf die Mobilisierung der Arbeiter in der Lachsindustrie der Kommune von Calbuco und später die der Saisonarbeiter in der Obstwirtschaft 2008.

Die Diskussionsveranstaltung mit Daniel Nunez, Direktor von ICAL (Forschungsinstitut Alejandro Lipschutz, (http://www.ical.cl) wird einen Einblick in die Arbeitsbedingungen in der chilenischen Kupfer- und Lachsindustrie, den Aufbau einer Gewerkschaftsschule, den Widerstand gegen die neoliberale Entwicklung Chiles und die politischen Konsequenzen der Mobilisierungen auf das Verhältnis von Regierung und Parlament geben.

Moderation: Mathias Hohmann 


Weitere Informationen zu Thema und Region: