Wie viele Krisen hält der Nahe Osten noch aus? Seit Israels Bombardement des Gaza-Streifens zur Jahreswende 2008/2009 fordern internationale Politiker/innen und Aktivist/innen wieder verstärkt, den Friedensprozess voranzutreiben. Meist fällt dabei das Wort von der «Zwei-Staaten-Lösung»: Israel und ein künftiger Palästinenserstaat friedlich Seite an Seite gilt als die Lösung, um den chronischen Kriegszustand im Nahen Osten zu beenden.
Mit der zunehmenden Akzeptanz dieser Idee, die vor über 40 Jahren zum ersten Mal aufkam, mehren sich allerdings auch die Stimmen, die sagen, dass die Zeit für eine solche Lösung bereits abgelaufen sei. Inzwischen leben rund 470.000 jüdische Siedler in der Westbank und verfügen dort über eine umfassende Infrastruktur. Dazu kommt die derzeit faktische Trennung zwischen der Westbank und dem Gazastreifen. Eine Teilung des Gebietes in zwei gleichberechtigte Staaten scheint unmöglich. Auf der anderen Seite lässt das Selbstverständnis Israels als jüdischer Staat eine Ein-Staaten-Lösung nicht zu. Eine Mehrheit von Palästinensern in einem bi-nationalen Staat wird von vielen Israelis als eine Bedrohung des Existenzzwecks des Staates Israel gesehen.
Welche Möglichkeiten zur Lösung des Konflikts gibt es also noch? Wie könnte eine Zwei-Staaten-Lösung trotzdem realisiert werden? Wie würde eine Ein-Staaten-Lösung aussehen? Gibt es Alternativen? Um diese Fragen zu diskutieren, kamen in der Rosa-Luxemburg-Stiftung der palästinensische Direktor der Al Quds Universität, Dr. Sari Nusseibeh und der israelische Politikwissenschaftler Dr. Menachem Klein unter der Gesprächsführung von Dr. Muriel Asseburg vom Berliner SWP zusammen. Beide Diskutanten waren über Jahre hinweg in verschiedene Friedensinitiativen involviert.
Klein: Die Notwendigkeit einer Zwei-Staaten-Lösung
Nach Ansicht von Menachem Klein ist die Schaffung eines Staates nicht eine Option, sondern bereits eine Realität. Israelis und Palästinenser leben de facto in einem Staat, in dem eine jüdische Fast-Minderheit über eine palästinensische Fast-Mehrheit herrscht. Das eigentliche Problem beschränke sich nicht auf die seit 1967 besetzten Gebiete, sondern betreffe auch die palästinensischen Israelis. Die eigentliche Frage ist für ihn also nicht, wie man die Besatzung beendet, sondern wie man von dem gegenwärtigen Ethno-Sicherheitssystem zu einer Zwei-Staaten-Lösung kommt, welche er als Notwendigkeit betrachtet:
In dem herrschenden Konflikt gehe um zwei ethnische Gruppen, die sich um ein Gebiet streiten. Der seit 150 Jahren andauernde Konflikt werde auf absehbare Zeit nicht gelöst werden, da eine Seite stärker sei und zudem die Unterstützung durch die internationale Gemeinschaft erfahre. Während die Palästinenser darauf warten, dass ihnen die Internationale Gemeinschaft einen Staat auf dem Silbertablett präsentiere, was aber nicht geschehe, festige Israel den Status Quo weiter. Aber im Endeffekt werde das Gebiet geteilt werden, die Frage, die sich bis dahin stelle sei nur, wie viel beide Seiten bis dahin noch leiden würden.
Eine Ein-Staaten-Lösung kann aus Kleins Sicht keine Möglichkeit sein, da es eine Tatsache sei, dass die Palästinenser keinen Staat hätten, die Juden aber schon, und dahinter kann man nicht zurückgehen.
Nach Kleins Vorstellung könnte eine Zwei-Staatenlösung wie folgt aussehen, wenngleich er zugeben muß, dass die Mehrheit der jüdischen Israelis derartige Ideen nicht unterstützt:
- Rückzug Israels auf die 67er Grenzen mit physischer Grenze zwischen den Gebieten, auch in Jerusalem
- geringfügiger Landtausch
- Rückkehrmöglichkeit für eine signifikante Anzahl von palästinensischen Flüchtlingen
- Änderung der Situation der palästinensischen Israelis; sie müssten kollektive Rechte als kulturelle und nationale Minderheit erhalten
Nusseibeh: Die Schaffung eines politischen Systems zur Wahrung von Gleichheit und Freiheit
Für Sari Nusseibeh ist die Zwei-Staaten-Lösung theoretisch – quasi mathematisch –durchaus möglich. Die Realität sei aber, dass man gegenwärtig in einem Zustand der Diskriminierung lebe und dieser nicht von selbst verschwinde. Für lange Zeit hätten die Palästinenser ihre Hoffnungen auf Verhandlungen gesetzt, aber dieser Prozess sei gescheitert. Für Nusseibeh ist ein Staat aber ohnehin kein Selbstzweck. Notwendig ist aus seiner Sicht ein politisches System, in dem alle Menschen in Gleichheit und Freiheit leben können. Ein gegebener Raum für individuelle Entwicklung sei wichtiger als ein Staat an sich. Wenn diese Rechte in einem palästinensischen Staat nicht garantiert seien, brauche es keinen palästinensischen Staat. Daher hält er eine Ein-Staat-Lösung für die bessere Lösung, kann es aber akzeptieren, wenn die jüdischen Israelis auf einen Staat für sich bestehen.
Nusseibeh vertritt die Ansicht, dass die Idee zur Zwei-Staaten-Lösung, die Klein vorschlägt, auch von Palästinensern akzeptiert werden könne, jedoch sei diese Option faktisch nicht mehr vorhanden. Die derzeitige Realität sei eine bi-nationale Diskriminierung. Aber auch die Etablierung von zwei Staaten ist aus seiner Sicht keine sakrosankte Idee, er schlägt vor, über andere Alternativen nachzudenken, wie Konföderationen, Stadt-Staaten oder die schrittweise Übergabe von Rechten an Palästinenser. Beispielsweise haben die palästinensischen Bewohner Jerusalems zwar ein Aufenthaltsrecht in Israel, jedoch keine politischen Rechte. Um von dort eine langsame Überführung von bürgerlichen zu politischen Rechten anzugehen, könne dazu aufgerufen werden, dieses Recht auf Freizügigkeit in Bewegung, Arbeit und Transport auf alle Palästinenser auszuweiten.
Zukünftige Entwicklungen
Die internationale Gemeinschaft unterstützte die vergangenen 10 – 15 Jahre die Palästinensische Autonomie Behörde beim Aufbau staatlicher Institutionen, ein Staat selbst wurde und wird aber nicht aufgebaut. Auch wenn die PA weiterhin in den Zwei-Staaten-Prozess involviert ist, verliert die Bevölkerung den Glauben daran und die Frage, was passieren wird, wenn auch im nächsten Jahrzehnt keine Zwei-Staaten-Lösung kommt, stellt sich stärker denn je.
Sinnvoller erscheint es Sari Nusseibeh daher, das Leben der Bevölkerung praktisch zu verbessern, als weiterhin in einer Blase zu leben. Die Unterstützung der Entwicklung von Gesundheits- und Erziehungssystemen, um den Lebensstandard der Palästinenser in Israel und außerhalb zu heben und an den der jüdischen Israelis anzugleichen, würde zudem ein Verschmelzen der beiden Seiten leichter und friedlicher machen.
Menachem Klein hingegen forderte in diesem Zusammenhang die Internationale Gemeinschaft auf, die gegenwärtige Situation, das israelische ethnische System nicht weiter zu unterstützen. Erst wenn diese Unterstützung aufhöre, könnten überhaupt andere Strategien in Betracht gezogen werden. Voraussetzung für Veränderung sei deshalb auch ein steigender Druck von außen.
Podium:
- Dr. Menachem Klein, Professor für Politikwissenschaft an der Bar Ilan Universität, Tel Aviv, und
- Dr. Sari Nusseibeh, Direktor der Al Quds Universität in Jerusalem
- Moderation: Dr. Muriel Asseburg, Leiterin der Forschungsgruppe Naher/Mittlerer Osten und Afrika bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP)
Dr. Menachem Klein promovierte in Middle East and Islamic Studies an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Er ist Vorstandsmitglied von B’Tselem, des Israelischen Informationszentrums für Menschenrechte in den besetzten Gebieten. Im Jahr 2000 war er als externer Sachverständiger für Jerusalem-Angelegenheiten und der Israel-PLO Final Status Talks für das israelische Außenministerium tätig. Er ist einer der Mitinitiatoren der Genfer Initiative.
Vita
Dr. Sari Nusseibeh studierte am Christ Church College in Oxford und an der Harvard University, wo er 1978 in Islamischer Philosophie promoviert wurde. Seit 1995 ist er Präsident der Al-Quds-Universität in Jerusalem. Von Oktober 2001 bis Dezember 2002 übernahm er die Funktion als Repräsentant der PLO in Jerusalem. Gemeinsam mit Uri Avnery wurde er 2003 mit dem Lew-Kopelew-Preis ausgezeichnet. 2004 erhielt er den Freedom of Worship Award. 2009 wurde ihm gemeinsam mit dem Israeli Itamar Rabinovich der Friedenspreis der Geschwister-Korn-und-Gerstenmann-Stiftung zuteil.
Vita
Eine Kurzversion des Videos befindet sich auf unserem RosaLux-Videokanal
Neues Deutschland, Ausland, 24.07.2010:
Zwei nahöstliche Vordenker
Menachem Klein und Sari Nusseibeh: Zwei-Staaten-Lösung oder nicht?