Demokratie in der Türkei – ohne KurdInnen?
Die Missachtung von Menschenrechten in der türkischen Republik
Die Türkei gilt in Teilen der deutschen Öffentlichkeit als Vorbild für die Vereinbarkeit von islamischen Glauben und einer parlamentarischen Demokratie: Ist die türkische Regierung ein Vorbild, wie es etwa auch in Ägypten, Tunesien und Libyen unterstützt werden könnte? Gegen den türkischen Staat als Vorzeigemodell sprechen die Erfahrungen über Menschenrechtsverletzungen, von denen der Politiker Medeni Kırıcı der oppositionellen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) am 6. Dezember 2011 in den Räumen der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin berichtete.
Seit Frühjahr 2009 fanden mehr als 8000 Festnahmen in der Türkei statt, im Schnitt sind das acht Festnahmen pro Tag. Darunter: BürgermeisterInnen, Parlamentsabgeordnete, WahlkampfhelferInnen, ein Universitätsprofessor, JournalistInnen, Anwälte, Gewerkschaftsmitglieder, AktivistInnen aus schwul-lesbischen und transgender sowie aus ökologischen Bewegungen. Letztere protestierten etwa gegen zerstörerische Staudammbauten im Südosten des Landes. Verhaftet wurden nicht nur Menschen mit kurdischem Familienhintergrund, doch trifft es diese und insbesondere die BDP als Partei, Bewegungsakteurin und organisierte Ansprechpartnerin vieler Menschen mit kurdischem Familienhintergrund besonders.
Kırıcı reihte die aktuellen Verhaftungen ein in die Geschichte der Unterdrückung von Partei- und Meinungsfreiheit seit Gründung der türkischen Republik. Die BDP ist besonders stark vertreten in den kurdischen Gebieten im Süden und Südosten des Landes, ihre Vorgängerorganisation gewann bei den Kommunalwahlen im Frühjahr 2009 etwa die Mehrheit in 101 Kommunen. Doch die Partei der demokratischen Gesellschaft DTP wurde im Dezember 2009 verboten. Die BDP selber gewann im Jahr 2009 bei der Parlamentswahl mit einer offenen Liste 36 Sitze. Sie fordert nun unter anderem eine Wahrheitsfindungskommission im Stile Südafrikas, um die Geschichte der Repression in der Türkei aufzuarbeiten und eine demokratischen Lösung der Frage Kurdistans.
Ebenfalls in die Rosa-Luxemburg-Stiftung eingeladen war die ehemalige Parlamentsabgeordnete der BDP Fatma Kurtulan. Allerdings konnte sie nicht teilnehmen. Sie müsse sich um ihre inhaftierten KollegInnen kümmern, entschuldigte sie Kırıcı. Er sprach an ihrer Stelle, schilderte den sich drängend erscheinenden Handlungsbedarf, die offensichtliche Hilflosigkeit der eigenen Lage: „Inzwischen sind nicht mehr viele von uns draußen.“ Zeitgleich zu seinem Besuch in Deutschland startete die Kampagne „Demokratie hinter Gittern“, die sich übergreifend über verschiedene politische Spektren für die Achtung von Menschenrechten in der Türkei einsetzt. Mehr unter http://demokratiehintergittern.blogsport.de.
Die gegenwärtige Verhaftungswelle erreiche eine neue Dimension. Hierüber waren sich Kırıcı und die Mitglieder der Kampagne „Demokratie hinter Gittern“ am 6.12.11 in Berlin einig. Juristisch möglich würden die Verhaftungen durch das Anti-Terrorgesetz in der Türkei. Keiner der Verhafteten würde jedoch beschuldigt, sich an Gewalttaten zu beteiligen. Zur Last gelegt werde ihnen vielmehr, sich kommunalpolitisch und in basisdemokratischen Stadtviertelräten zu engagieren, für eine Friedenslösung durch einen Dialog aller Beteiligten einzutreten oder muttersprachlichen Unterricht zu fordern. Da auch die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans PKK für solche Ziele eintrete, würde auch jede legale politische Betätigung in diesem Sinne als Terrorunterstützung ausgelegt.
Internationale Beziehungen und global agierende Interessen
Während der türkische Ministerpräsident Erdogan öffentlichkeitswirksam die nordafrikanischen Staaten bereise und Panzer aus Deutschland kaufe, würden die Rechte der politischen Opposition in der Türkei mit Füßen getreten, spitzte Nick Brauns, der Moderator der Veranstaltung in der RLS und Mitglied des Bündnisses „Tatort Kurdistan“ die Widersprüche zu.
Der BDP-Politiker Kırıcı thematisierte die Forderung über einen EU-Beitritt der Türkei, da sich die BDP dadurch bessere Bedingungen zur Lösung der KurdInnenfrage erhoffe. Im EU-Fortschrittsbericht über die Türkei tauche die Kurdenfrage zwar auf, werde allerdings allein unter Aspekten politischer Individualrechte behandelt, so Kırıcı. Dem kollektiven Bestreben nach einer demokratischen Autonomie, wie sie die BDP fordert, werde kein Gehör geschenkt. Dabei orientiere sich die BDP mit ihrer Forderung nach einer demokratischen Autonomie an den politischen Systemen Kanadas oder an Südtirol, betonte der BDP-Politiker. Er wehrte sich entschieden dagegen, die Frage Kurdistans allein als Entwicklungsproblem zu interpretieren: Der Entwicklungsdiskurs entpolitisiere die stattfindenden sozialen, kulturellen und politischen Kämpfe.
Die doppelten Standards im Sprechen über Demokratie und Menschenrechte in der deutschen Öffentlichkeit einerseits, bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum durch Rüstungsproduktion und -export in der EU andererseits waren Thema der anschließenden Diskussion. Kırıcı selber behalf sich mit einer Metapher: Erdogan sei eine Marionette auf der Bühne der internationalen Beziehungen. Obamas Türkei-Besuch sei eine erfolgreiche Inszenierung gewesen, global agierende Kapitalinteressen, wie die von Goldman Sachs, zählten zu den Finanziers dieser Inszenierung. Doch das Ende der Spielfiguren Gaddafi, Mubarak und Hussein wiesen den Weg: Erst als Begünstigte von global agierenden Interessen, anschließend würden sie schnell abgestoßen, bis hin zu ihrem Sturz. Erdogan könne sich seiner Rolle also nicht dauerhaft sicher sein, endete Kırıcı.
Anna Weber, Rosa-Luxemburg-Stiftung