Die globale Krise, die die Welt seit einigen Jahren auf verschiedensten Ebenen in Atem hält, fördert notwendigerweise auch regional-spezifische Ausprägungen zu Tage. Für den überwiegenden Teil der afrikanischen Länder hat die Krise schon in den 1980er Jahren mit der Schuldenkrise und den folgenden von IWF und Weltbank auferlegten Strukturanpassungsmaßnahmen begonnen, also mit dem großflächigen Abbau von sozialen Sicherungssystemen, Privatisierungen, Deregulierungen und radikalen Marktöffnungen. Diese massive Schwächung der staatlichen, zukunftsgestaltenden Spielräume fiel zusammen mit der formalen Transformation vieler Staaten in repräsentative Mehrparteiendemokratien nach westlich-liberalem Vorbild. Was der ökonomische (Neo-)Liberalismus an Flurschäden anrichtete, sollten politischer Liberalismus und „Gute Regierungsführung“ wieder auffangen und in geordnete Pfade prosperierenden Wachstums lenken. So oder so ähnlich lauteten jedenfalls die Versprechungen an die gebeutelten Menschen dieser Staaten.
Die internationale Konferenz „Soziale Bewegungen in Westafrika: Zwischen den Verheerungen des ökonomischen Liberalismus und der Verheißung des politischen Liberalismus“ vom 17. Bis 19. Juni 2014 in Dakar/Senegal markierte den vorläufigen Höhepunkt eines größeren Projekts, das das Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Dakar mit einer ersten Konferenz im Jahr 2012 startete. Im Zentrum steht hierbei die Suche nach alternativen politischen und ökonomischen Wegen, die einen Ausweg aus den multiplen Krisen weisen können, sowie die Frage nach den Akteuren eines solchen Wandels. Während die meisten wissenschaftlichen Arbeiten das Auseinanderklaffen der hehren Versprechungen des Liberalismus und der tristen Realität analysieren und im besten Falle institutionelle Reformen anmahnen oder schlicht „Gute Regierungsführung“ als Allzweck-Wunderwaffe preisen, setzte dem die erste Konferenz im Jahr 2012 als Schlussfolgerung entgegen, dass die „liberale Demokratie“ als solche Teil des Problems sei, das die Staaten Afrika überwinden müssten.
Die Grundlage der dreitägigen Konferenz 2014 lieferte das zeitgleich vorgestellte Buch mit demselben Titel der Konferenz (Ndongo Samba Sylla (Hrsg.) in Französisch und Englisch: „Les mouvements sociaux en Afrique de l’Ouest – Entre les ravages du libéralisme économique et la promesse du libéralisme politique“ / „Liberalism and its discontents: Social movements in West Africa“), welches das Ergebnis eines 2013 gestarteten Forschungsverbunds zur Analyse der sozialen Bewegungen Westafrikas ist. Ndongo Samba Sylla, Programm- und Forschungsmanager der Rosa-Luxemburg Stiftung in Dakar, lieferte als Herausgeber des Buchs und inhaltlicher Koordinator der Konferenz die entscheidende Vorarbeit. Als ExpertInnen sprachen in erster Linie die AutorInnen des Buches aus zwölf Staaten Westafrikas. Hierdurch konnte in den Diskussionen gezielt auf die Kernfragen der einzelnen Buchkapitel eingegangen und offene Fragen in einer großen Detailtiefe debattiert werden. Den Rahmen bildeten die zwei Hauptfragen: a) nach dem Verhältnis zwischen der Krise der liberalen Demokratie und der Wiederbelebung sozialer Bewegungen und b) nach der Fähigkeit dieser sozialen Bewegungen, die notwendige soziale Transformation herbeizuführen.
Die Konferenz war um die Herstellung der Verbindung zwischen Theorie und Praxis, zwischen Wissenschaft und Aktivismus bemüht. Das gelang, abgesehen von den unvermeidlichen Brüchen, insgesamt recht gut. Auffällig war jedoch, wie weit sich inzwischen Intellektuelle und AktivistInnen sozialer Bewegungen schon entfremdet haben und mit zuweilen sichtbarem Stolz die Unterschiede zwischen beiden noch heraushoben. So war in den sich entfaltenden Debatten stets ein gewisses gegenseitiges Misstrauen zu spüren, wodurch sich die These seitens eines Großteils der WissenschaftlerInnen zu bestätigen schien, dass die derzeitigen sozialen Bewegungen (noch) kein wirkliches transformatorisches Potential aufweisen – insbesondere wenn es um mehr als reformerische Forderungen oder den reinen Personalwechsel ohne echten Politikwechsel beispielsweise durch Umsturz oder korrekt abgehaltene Wahlen geht.
Im Zentrum der meisten Diskussionen standen Konzept und Realität der Zivilgesellschaften in verschiedenen Ländern. Mehrfach wurde betont, dass soziale Bewegungen und Zivilgesellschaft, die durchaus auch Teil von sozialen Bewegungen sein kann, nicht gleichgesetzt werden dürfen. Es wurde immer wieder deutlich, dass „Zivilgesellschaft“ als Konzept schwer greifbar und eindeutig definierbar ist. Dies hat einerseits mit den unterschiedlichen Realitäten in den Ländern zu tun, andererseits mit den teils sehr unterschiedlichen Interessen einzelner (zivil-)gesellschaftlicher Gruppen. Im Zuge der Strukturanpassungsmaßnahmen mit ihrer massiven Schwächung der Staaten sind in Zeiten des wirtschaftlichen und politischen (Neo-)Liberalismus insbesondere Nichtregierungsorganisationen (NRO) wie Pilze aus dem Boden geschossen. Sie haben staatliche Aufgaben übernommen, sind zuweilen Sprachrohr politischer oder auch ausländischer Interessen und betätigen sich – schon strukturell bedingt – fast ausschließlich reformorientiert innerhalb der bestehenden Systeme. Im Weiteren wurde mehrfach die Frage nach der oft angemahnten (finanziellen) Autonomie zivilgesellschaftlicher Organisationen (ZGO) aufgeworfen, sowie der Unterschied zum schon lange bestehenden, aber etwas in Vergessenheit geratenen Kampf der Gewerkschaften betont. Diese waren bis zum Einsetzen des „Staatszerfalls“ unter internationalem Druck die Träger sozialer Bewegungen und sozialen Fortschritts. Das hat auch damit zu tun, dass sie eine gewisse finanzielle Unabhängigkeit besitzen und auf lange Sicht eine stabilere Organisationsstruktur bieten können. Es bedarf einer ebensolchen über die Zeit stabilen Organisation – da waren sich alle einig –, um die nötige politische, ökonomische, ökologische und soziale Transformation erreichen zu können. Soziale Bewegungen können zwar recht spontan und ohne hohen Organisationsgrad entstehen, sind durch ihre Dezentralität auch recht schlagkräftig – aber auf lange Sicht braucht es starke Organisationen, die die Bewegungen verstetigen und etwaige Niederlagen besser verarbeiten und Erfolge über die Zeit retten können. Parteien können diese Rolle derzeit nicht übernehmen, obwohl es wünschenswert wäre. Sie sind in Westafrika meist personenzentrierte Organisationen ohne Programm. Dazu kommt, dass die politische Klasse absolut dekreditiert ist.
Auch wenn sich manche Diskussionen im Kreis zu drehen und zu wiederholen schienen, handfeste Ergebnisse der Konferenz noch nicht vorweisbar sind, manche Missverständnisse zwischen WissenschaftlerInnen und AktivistInnen sich nicht ausräumen ließen, so war die Konferenz insgesamt doch eine erfolgreiche Bestandsaufnahme.
Die Arbeit an den offenen Fragen wird weitergehen. Das Netzwerk der ExpertInnen, die für Buch und Konferenz sich zusammengefunden haben, wird unter Koordination der Rosa-Luxemburg-Stiftung ausgebaut und verstetigt. Wir können auf weitere Resultate dieser Arbeit auf unterschiedlichen Ebenen sehr gespannt sein.
Nicolai Röschert