Dokumentation Zukunft heißt Verantwortung!

Schalom und Alefbet in der Neuen Synagoge - Rosa-Luxemburg-Stiftung unterstützte Buchveröffentlichung über die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums in Berlin. Bericht und Audiodokumentation.

Information

Veranstaltungsort

Neue Synagoge Berlin, Großer Saal
Oranienburger Straße 28/30
10117 Berlin

Zeit

26.01.2015

Veranstalter

Effi Böhlke,

Mit

Hermann Simon, Petra Pau, Dirk Külow, Inge Weinem, Dagmar Enkelmann, Lars Jolig, Boris Rosenthal und der Schulband des jüdischen Gymnasiums

Themenbereiche

Geschichte, Erinnerungspolitik / Antifaschismus, Deutsche / Europäische Geschichte

Eine emotionale Zeitreise war kürzlich bei der Vorstellung des Buches über die mehr als 150jährige Geschichte des Jüdischen Gymnasiums in Berlin zu erleben. Nicht nur der Ort der Buchpremiere – der Große Saal der Neuen Synagoge in Berlin – war symbolträchtig, sondern auch ihr Zeitpunkt: der Vorabend des 70. Jahrestages der Befreiung des Nazi-Vernichtungslagers Auschwitz durch die Rote Armee.

Da war es nur folgerichtig, dass von der Geschichte des ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der Großen Hamburger Straße in Berlin-Mitte beheimateten Schule – am selben Ort befindet sich das Gymnasium heute wieder – vor allem die Zeit zwischen 1933 und 1945 im Mittelpunkt stand. Lebendig wurde diese durch die Schilderungen einer ehemaligen Schülerin. Die 86jährige Inge Weinem, von 1939 bis 1941 Schülerin auf der damaligen Jüdischen Mittelschule, erzählte aus ihren, noch unaufgeschriebenen Leben, begleitet von Hermann Simon, dem Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin.

Aus ihrer Schulzeit erinnerte sich Inge Weinem an ihre geliebte Klassenlehrerin oder an ihren «sehr, sehr strengen» Musiklehrer, der ihr mit dem Rohrstock auf die Finger schlug oder an die Turnlehrerin, die immer im «Pumphosen» ging, was in den Augen der damaligen Jugend offenbar keineswegs die neueste Mode war. 

Weinem und Simon waren sich zu der Zeit übrigens, wie sie nun Jahrzehnte später feststellten, zumindest virtuell über den Weg gelaufen. Nur einen Tag sei er, so hätten es ihm seine Eltern später erzählt, erinnerte sich Simon, in den Kindergarten gegangen, für den Inge Weinem nach dem Ende ihres Schulbesuchs eine Zeitlang wohl auch gekocht hatte. Beide waren damals am selben Ort gewesen. Eine Erinnerung aneinander aus der Zeit hatten sie aber nicht, so sehr es sich beide - und der vollbesetzte Saal - auch wünschten.

Höhepunkt des Abends war der Brief einer Lehrerin aus dem September 1942. Das Vorlesen der handgeschriebenen Zeilen und ihre gleichzeitiges Verstehen entwickelten sich zu einem beeindruckenden Erlebnis. Die Schule war von den Nazis schon einige Monate geschlossen worden. In dem neuen Buch «Schalom und Alefbet» über das Jüdische Gymnasium kann man nachlesen, dass von den Lehrerinnen und Lehrern der jüdischen Schule, die sich bis zum 1. September 1939 nicht ins Ausland gerettet hatten, niemand den Holocaust überlebte. Und von den 1500 jüdischen Schülerinnen und Schülern, die die Schule von 1933 bis zur Schließung durch die Nazis im Juni 1942 besuchten, konnte sich nur ein kleiner Teil das Leben retten.

Die Lehrerin aber schrieb 1942 an ihre gute Freundin und die Erinnerung sprach zum Publikum: Hört, noch lebe ich, habe ich meine Hoffnung nicht aufgeben, obwohl ich schon die Liste ausgefüllt habe - die «Liste», wurde man durch die Vorleser aufgeklärt, nannten die zu Deportierenden damals die Aufstellung der  Vermögensgegenstände, die die Nazis verlangten.

Dass die Erinnerung an die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums an der deutschen Gegenwart nicht vorbeigeht, konnte nicht verwundern. Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (DIE LINKE) wies in ihren einleitenden Worten darauf hin, dass sich nicht nur in Frankreich, sondern auch hierzulande Jüdinnen und Juden immer mehr bedroht fühlen - einfach, weil sie bedroht werden. Sie, Pau, glaube zwar nicht, dass antisemitische Stimmungen in Deutschland zugenommen hätten - dem widersprächen alle Umfragen und Untersuchungen - allerdings würden sich diese Stimmungen offenbar enthemmter als früher entladen. Das mache ihr ernsthaft Sorgen.

Mit den «verbohrten Rassisten und Antisemiten» von Pegida ein Gespräch zu führen, lehnte Pau ab. Diesen Leuten müsse man schlicht den Weg versperren. Allerdings wies die Bundestagsvizepräsidentin auch darauf hin, dass der Soziologe Wilhelm Heitmeyer von der Uni Bielefeld, der von 2002 bis 2011 die «Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit» in der Bevölkerung untersucht hatte, im Ergebnis die Feststellung getroffen hatte, dass die Akzeptanz von Gewalt in der Gesellschaft zugenommen habe. Eine Ursache dafür sei, so Pau Heitmeyer weiter zitierend, die Ökonomisierung des Sozialen. Das münde in allgemeiner Verunsicherung, die sich falschen Halt und falsche Gegner suche. Wenn dem so sei, schlussfolgerte Pau, reichten aber Gegenkundgebungen auch nicht mehr aus. Da sei eine andere Politik, gerade im Sozialen, für mehr Gerechtigkeit und mehr Demokratie gefordert.

Die Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Dagmar Enkelmann, machte in ihrem Schlusswort darauf aufmerksam, dass das Buch keineswegs nur die Geschichte des Gymnasiums würdigt, sondern auch das heutige Leben an der Schule akribisch beschreibt. Dem Autor sei ein Lehrbuch gelungen, das in alle Schulen gehöre. Die Stiftung sei, so Enkelmann, sehr stolz darauf, dass sie dieses Projekt unterstützen durfte.

In der Auseinandersetzung um den aktuellen Antisemitismus zitierte Enkelmann ein an in diesen Tagen veröffentlichte Studie der Bertelsmann-Stiftung, nach der eine Mehrheit der Bevölkerung gern einen Schlussstrich unter die nazistische Vergangenheit ziehen würde. Es kann und darf aber, betonte die RLS-Vorsitzende,  keinen Schlussstrich geben. Antisemitische Schmierereien, Gewalt gegen jüdische Mitbürger und jüdische Einrichtungen, die Schändung von Friedhöfen und von Stolpersteinen – all das sei heute leider Alltag und auch kein Phänomen einer rechtsextremen Minderheit, sondern in der «Mitte der Gesellschaft» angesiedelt.  Es bedürfe, appellierte Enkelmann, einer offensiven Auseinandersetzung, der Aufklärung und des Miteinanders. Antisemitismus gehöre nicht zu einer offenen und toleranten Gesellschaft.

Neben der Rosa-Luxemburg-Stiftung ist das Buch über das Jüdische Gymnasium maßgeblich von gut einem Dutzend weiterer privater und öffentlicher Institutionen gefördert worden. Angesichts der aktuellen antisemitischen Tendenzen mutet das jahrelange Klinkenputzen, das Autor Dirk Külow und seine Unterstützer hinter sich bringen mussten, um das Buch herausbringen zu können, ein wenig anachronistisch an. Wäre es nicht ureigenste staatliche Aufgabe gewesen, die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums aufarbeiten zu lassen?

Am Ende des erinnerungsträchtigen Abends spielte die Schulband des Jüdischen Gymnasiums Stevie Wonders «Isn’t She Lovely». Der 1976 veröffentlichte Song hält das glückliche Gefühl fest, das den Musiker durch die Geburt und das Zusammenleben mit einer seiner Töchter erfasst hatte. Ein fröhliches, unbekümmertes Lied und ein unerwartetes, optimistisches Ende.

Jörg Staude, Berlin


Dirk Külow, «Schalom & Alefbet - Die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums in Berlin», 240 S., ISBN: 978-3-95565-030-8, 24,90 Euro;

Von der Schwierigkeit, sich zu erinnern
Berlin: In der Neuen Synagoge wurde das Buch über die Geschichte des Jüdischen Gymnasiums vorgestellt.
neues deutschland, 29.1.2015

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Schalom und Alefbet in der Neuen Synagoge Berlin