Dokumentation Die Qual der Wahl: Russland vor den Duma-Wahlen

Mehr Demokratie, mehr Transparenz? Von der Diskussion berichtet Jörg Staude.

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05.09.2016

Themenbereiche

Staat / Demokratie, Parteien / Wahlanalysen, Osteuropa

Vladimir Fomenko (alle Fotos: Rosa-Luxemburg-Stiftung)

 

Am 18. September 2016 wird gewählt - nicht nur das Berliner Abgeordnetenhaus, sondern östlich bis fernöstlich von Deutschland entscheiden am selben Sonntag die 111 Millionen Wählerinnen und Wähler der Russischen Föderation über etwa 40.000 zentrale wie regionale Mandate. So einen Riesen-Wahltag hat es in dem Land vermutlich seit 1991 nicht mehr gegeben. Am meisten im internationalen Fokus steht die künftige Zusammensetzung der Staatsduma, des höchsten Parlaments Russlands.

In ihrer Begrüßung am Montagabend im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin machte die Stiftungsvorsitzende Dagmar Enkelmann nicht allein auf die unvergleichlichen Dimensionen der kommenden russischen Wahl aufmerksam. In den fünf Jahren, in denen die 2011 gewählte Duma amtierte, habe sich die Welt «gravierend verändert», sagte Enkelmann vor dem vollbesetzten Salon. Stichworte dafür seien: die Finanzkrise, die Griechenland-«Pleite» oder die Entwicklung um Flucht und Migration. Große Veränderungen haben auch Russland selbst betroffen, wie man am Ukraine-Konflikt, dem um die Krim, am Streit um den russischen Militäreinsatz in Syrien oder um die Sanktionen der EU gegen Russland erkennen kann, sagte die Stiftungsvorsitzende.

Wie sich all das auf die Wahlen auswirke, das  sei ein spannende Frage, betonte Enkelmann und hob zugleich hervor, dass eine linke Stiftung wie die Rosa-Luxemburg-Stiftung den Vorzug habe, auf die Vorgänge anders zu reagieren. Man müsse eben nicht entlang des offiziellen Mainstreams diskutieren, sondern könne auch «seitwärts» und etwas genauer hinschauen, erklärte Enkelmann.

Das taten auf dem Podium dann auch, moderiert von ND-Redakteur Rene Heilig, aus dem Moskauer Büro der Stiftung die neue dortige Leiterin, Kerstin Kaiser sowie an ihrer Seite der langjährige Moskauer RLS-Mitstreiter Vladimir Fomenko sowie der Journalist und Buchautor Viktor Timtschenko.

Fomenko wartete gleich mit interessanten Details zur Duma-Wahl auf: So sei in den fünf Jahren der Legislatur die Zahl der Wahlberechtigten um zwei Millionen gestiegen, vor allem durch das «Hinzukommen» der Krim, aber auch durch Einwanderung. Erstmals würden die 450 Mandate der Staatsduma - wie das bei der Wahl zum Deutschen Bundestag usus ist - zur einen Hälfte über Parteilisten und zur anderen Hälfte über Direktmandate vergeben. Um diese konnten sich auch Unabhängige bewerben. Gesenkt wurde in der Wahlordnung auch die Sperrklausel von 7 auf 5 Prozent. Insgesamt stellten sich, bilanzierte Fomenko, 14 Parteien zur Wahl, neben den vier etablierten aus der Duma zehn weitere, die in mindestens einem Regionalparlament mit mindestens einer Fraktion vertreten sind.

Zu den offensichtlichen Parallelen zum deutschen Wahlsystem bemerkte Viktor Timtschenko, dass sich alle ehemaligen Sowjetrepubliken in Richtung Europa bewegten. Er wisse aber nicht, «ob das gut ist», schränkte er ein.

Kerstin Kaiser betonte ihrerseits, dass aufgrund der Änderungen im Wahlsystem bei der Duma-Wahl ein «Mehr an Demokratie» und ein «Mehr an Transparenz» zu erwarten sind.  Aus den 225 Direktwahlkreisen würden zudem künftig in der Duma mehr Menschen sitzen, die mit einem Mandat aus den - riesigen - Regionen versehen sind und stärker auf deren Interessen als auf Parteiprogramm achten würden. Allerdings hätten Parteiprogramme in Russland, räumte sie ein, nicht den Stellenwert und die Bindungskraft wie beispielsweise in Deutschland. Kritisch merkte Kaiser auch den geringen Anteil von Frauen in der Duma von 13 bis 15 Prozent an. Das werde sich auch durch die Wahl nicht bessern.

Von den 14 Parteien haben allerdings, da war sich das Podium einig, nur vier echte Chancen, in die Duma einzuziehen, allen voran die Putin-Partei «Einiges Russland», die gegenwärtig mit mehr als einem Drittel der Stimmen rechnen kann. Es folgen mit deutlichem Abstand die Kommunistische Partei der Russischen Föderation, die rechtspopulistische Liberal-Demokratische Partei Russlands sowie die Partei Gerechtes Russland, die der Sozialdemokratie nahesteht. Während letztere schon mit der Fünf-Prozent-Hürde ringt, bewegten sich alle anderen Parteien bei den Meinungsumfragen im Bereich der statistischen Schwankungsbreite von einem oder zwei Prozent.

Was die Wahlbeteiligung betrifft, so rechnet Vladimir Fomenko mit einer Größe um die 60 Prozent. Er erwarte, wie er verdeutlichte, keinen «Erdrutsch» bei den Ergebnissen - der entscheidende Wert der Wahlen besteht für ihn darin, dass diese «legitim» sein werden. Anders als noch 2011 werden die Wahlen voraussichtlich ohne den Verdacht einer Manipulation der Ergebnisse über die Bühne gehen. «Die Menschen müssen das Gefühl haben, dass es ein faire Wahl wird», umriss Fomenko den Umstand.

Über die «Fairness» gebe es auch, ergänzte Kerstin Kaiser, eine presseöffentliche Debatte, weniger im Staatsfernsehen, aber in den Blogs und in den Zeitungen. Es sei allerdings nicht ganz einfach die Stiftung, zu diesen Fragen eine Position einzunehmen. Konzentriere sich die Kritik auf den «Undemokraten» Putin verschwänden dahinter die wirklichen Interessen der Gesellschaft und der Menschen, andererseits dürfe die Stiftung aber auch nicht in den Verdacht geraten, Putin zu verteidigen.

Im Laufe des Abends verlagerte sich die Debatte mehr und mehr weg von den Duma-Wahlen hin zu einer Gesamtschau auf die innen- wie außenpolitische Lage Russlands. Was bedeutet es zum Beispiel, dass 80 Prozent der Russen Putin ihre Stimme geben würden, nur 37 Prozent aber seiner Partei «Einiges Russland»?

Die große Unterstützung Putins habe auch, hieß es auf dem Podium, damit zu tun, dass die Russen die jetzige Zeit mit der der großen sozialen Verwerfungen in den 1990er Jahren verglichen. Für Viktor Timtschenko bessert sich die wirtschaftliche Situation Russlands gegenwärtig: Die Zeit der Rezession sei vorbei, die Wirtschaft stabilisiere sich und der einstige Kapitalabfluss sei gestoppt. «Den Russen geht es nicht blendend, nicht glänzend, aber es geht auch nicht bergab.»

Unabhängig von einzelnen, auch konträren Positionen zu Russland, die sich in der Debatte herausschälten, wurde im Salon das enorm große Interesse des Publikums sichtbar, aus Russland Informationen aus erster Hand zu erhalten. Dem Bedürfnis ist die Stiftung an diesem Abend nachgegangen.

Jörg Staude


Ankündigung

Nach fünf Jahren wählen die BürgerInnen in der Russländischen Föderation am 18. September wieder ihr höchstes Parlament - die Duma. In den deutschen Leitmedien dominieren außenpolitische und geostrategische Betrachtungen zur Bedeutung dieser Wahlen, Debatten über die Konfliktherde Ukraine-Donbass-Krim oder Syrien und die Sicht auf den Präsidenten Putin, dessen «böser Geist» für Nationalismus, Militarisierung, und Rückkehr des Krieges nach Europa verantwortlich gemacht wird, aber auch für ein undemokratisches System. Tatsächliche Wahlmotivationen, Lebenswirklichkeit und Probleme der Menschen in diesem großen, multinationalen Staat, dessen politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderungen verschwinden fast völlig hinter «auswärtigen» Erwägungen.

Die offiziellen deutsch-russischen Beziehungen stecken in der Sackgasse fest, der 15. «Petersburger Dialog» im Juli enttäuschte alle Erwartungen. Welche Bedeutung könnten die Duma-Wahlen haben, welche Veränderungen könnten sie bringen – für Russland und Europa? Die Rosa-Luxemburg-Stiftung bietet Interessierten an diesem Abend andere Informationen und Perspektiven an und stellt sie zur Diskussion.

Im Gespräch:

  • Kerstin Kaiser (Slavistin, Leiterin des Regionalbüros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Moskau)
  • Vladimir Fomenko (Politikwissenschaftler; Rosa-Luxemburg-Stiftung Moskau)
  • Viktor Timtschenko (Journalist und Buchautor; Leipzig)
  • Begrüßung: Dagmar Enkelmann (Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung)
  • Moderation: Renè Heilig