Um ein schwieriges Kapitel Geschichtsaufarbeitung ging es am Donnerstag im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin (15.12.2016) bei der Aufführung des Films "Der Ost-Komplex" von Filmemacher Jochen Hick sowie der anschließenden Diskussion.
In dem Film werden auf einmalige Weise die persönlichen Lebens-Wendungen des Zeitzeugen Mario Röllig mit den Wechselfällen deutsch-deutscher Geschichte verwoben, verbunden mit der noch immer nicht gültig beantworteten Frage, wie die Gesellschaft heute mit dem Erbe der DDR umgeht.
Eine umfassende Antwort darauf konnte man auch nach anderthalb Stunden Film und ebenso langer Podiumsdiskussion zwischen der RLS-Vorstandsvorsitzenden Dagmar Enkelmann, dem Filmprotagonisten Mario Röllig sowie dem Regisseur Jochen Hick nicht erwarten - die Notwendigkeit, dass sich auch die Stiftung mit dem "Komplex" DDR weiter zu befassen hat, wurde aber deutlich.
Das Leben von Mario Röllig ist eines zwischen den Systemen. 1967 geboren und aus DDR-tradiertem Elternhaus stammend erlebte er als Jugendlicher, wie er im Salon offenherzig schilderte, von einer Stunde zur anderen sein Coming Out als schwuler Mann. Röllig arbeitete als Kellner in DDR-"Devisen"-Restaurants, wurde beim Fluchtversuch aus Liebe an der jugoslawischen Grenze gefasst, saß drei Monate im Gefängnis der DDR-Staatssicherheit in Berlin-Hohenschönhausen und durchschritt mehr als eine Lebenskrise bis hin zu einem Suizidversuch. Inzwischen ist er de facto im Haupt"beruf" ein im In- und Ausland gefragter Zeitzeuge.
Obwohl Mario Röllig in nahezu jeder Filmszene zu sehen ist, sei der "Ost-Komplex" kein typischer biopic, also eine intelligent erzählte Biografie, betonte Filmemacher Jochen Hick eingangs der Podiumsdebatte. Der Film zeige eher, wie Menschen auf Rölligs Präsenz und Auftreten reagieren. Deswegen bleibe die Kamera auch immer in dem Raum, in dem sich Röllig aufhalte und das Gezeigte spiegele nur wieder, was in dem Raum und zwischen den Menschen vor sich gehe. Röllig wirke dabei, so Hick, oft wie ein "Katalysator" für die Auseinandersetzung, auch was die Sicht auf die DDR betrifft.
Das Bild dieses Landes bewegt sich für dem Filmemacher Jochen Hick derzeit zwischen den Polen eines "Ostalgiefernsehens" und dem Stasi-DDR-Drama. Beide Extreme hätten, sagte er, auch ihre Berechtigung, führten aber nicht so recht weiter. Es gebe, sagte Hick weiter, so ein "komisches Schamgefühl", das dazu führe, dass ehemalige DDR-Bürger nicht einmal mehr mit ihren Kindern über diese Zeit redeten. "Woher kommt das? Wer hat das ausgelöst?", fragte Hick
So mehrdeutig und komplex wie sein Filmtitel ist für ihn auch das Ost-Thema. Das betreffe nicht nur die Menschen im ehemaligen Osten, sondern auch die Westdeutschen. Auf die Frage des Moderators Alfred Eichhorn, ob die DDR ein "Unrechtsstaat" gewesen sei, antwortete Hick ausweichend, er wüsste immer noch nicht, wie man die Frage beantworten sollte - und ob es überhaupt eine Frage sei?
Mario Röllig ließ dagegen an seiner Sicht auf die DDR keinen Zweifel. Er werde seine Aufklärungsarbeit so lange fortsetzen - auch wenn das vermutlich noch lange dauern wird -, "bis in jedem Geschichtsbuch steht, dass die DDR eine Diktatur war". Seine Führungen durch die Stasi-Gedenkstätte Hohenschönhausen, die er monatlich zwei bis drei Mal mache, stellten für ihn eine Art Therapie dar. Jetzt hätten die, sagte er im Salon, die Schlüsselgewalt über das Gefängnis, die früher selbst darin gesessen haben. "Das ist eine wahnsinnige Genugtuung."
Seine Mission verfolgt Röllig mit ganz eigener Konsequenz, nicht nur, weil er, was der Film zeigt, nahezu unermüdlich deutschlandweit als Zeitzeuge vor Schulklassen aufritt. Dabei lässt er sich von der unionsnahen Konrad-Adenauer-Stiftung unterstützen, beteiligte sich aber auch an dem von der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) realisierten Multimedia-Projekt "19 Gute Gründe für die Demokratie".
Bei einem anderen, aktuell laufenden Projekt mit der FES, bei dem Rölling sich engagiert, geht es um das Thema "Fakten statt Vorurteile zu Flüchtlingen". Zu oft ist ihm, der aus der DDR vom Westen freigekauft wurde, von Schülern entgegen gehalten worden, dass seine Flucht nicht dasselbe sei, wie wenn heute Menschen aus dem Nahen Osten oder aus Afrika nach Europa kämen - denn er sei doch als Deutscher geflohen.
Vor Neonazis aufzutreten und gegenzuhalten, stellt für Röllig dabei kein Problem dar. Schlimmer als offene Neonazis findet er die schweigende Mehrheit unter den Schülern, die "keinen Bock" auf Projekte habe, die sich mit Fremdenfeindlichkeit und Rassismus auseinandersetzen.
Die RLS-Vorsitzende Dagmar Enkelmann trat in der Debatte dem Eindruck entgegen, die Beschäftigung mit dem schwierigen Ost-Komplex eine Ausnahme in der Stiftungsarbeit sei. "Sich mit der eigenen Vergangenheit zu beschäftigen und mit unterschiedlichen Positionen in einen Austausch zu treten, ist selbstverständlich", sagte sie.
Beim Kapitel Staatssicherheit gebe es aber, räumte Enkelmann ein, nach wie vor "Blockaden". Zwar habe sich die Partei, die aus der SED hervorgegangen war, von Beginn an die Aufgabe gestellt, die Vergangenheit aufzuarbeiten und auch eigene Schuld wahrzunehmen – das sei "auch an vielen Stellen passiert, aber nicht konsequent genug", betonte die Stiftungsvorsitzende. Sie hält den Beschluss, dass, wer ein öffentliches Amt für die LINKE übernehmen will, seine Biografie offen legen muss, nach wie vor für richtig.
Enkelmann sprach sich auch dagegen aus, einen Schlussstrich bei der Aufarbeitung schmerzhafter Geschichtskapitel zu ziehen. "Man müsse sich schon fragen, warum Menschen, die anders gelebt, anders geliebt oder nur anders gedacht haben, in der DDR im Gefängnis landen konnten", sagte sie.
Auf die Frage des Moderators, ob die Linke, aus dem, was in DDR war, Lehren für heutige Probleme ziehen könne, antwortete Enkelmann, das gehe eben nur, wenn man sich kritisch mit der Geschichte der DDR auseinandersetze und sich - wie es auch der Film tue - frage: Was ist das für ein Sozialismus gewesen? "Dort wo keine Demokratie ist, wo keine wirkliche Teilhabe ist, das kann kein Sozialismus sein", sagte sie.
Anknüpfend an den Filmtitel plädierte auch Dagmar Enkelmann für ein komplexeres Hergehen an die Aufarbeitung der Geschichte. In der DDR habe es Fehler im System gegeben, allerdings sei die DDR auch mehr als das gewesen. Das meinten viele Menschen, wenn sie davon sprächen, dass sie durch die Diskussionen in ihrer Biografie beschädigt werden. "Weil sie ein normales Leben hatten, müssen sich dafür entschuldigen, dass sie in der DDR gelebt haben", merkte Enkelmann an.
Das aufgreifend sagte Jochen Hick, er bekomme oft zu hören, dass der Sozialismus "Mehr" und etwas "Anderes" gewesen ist - zugleich werde aber auch gesagt, man wolle nicht immer nur über die DDR reden. Es laufe, kritisierte Hick, auf widersprüchliche Positionen hinaus: Zum einen sei die DDR so schlimm nicht gewesen, zum anderen sei wirklicher Sozialismus doch etwas ganz Anderes.
Wie schwierig es ist zu verstehen, wie es in der DDR war, zeigte sich, als Dagmar Enkelmann von Umfrage-Ergebnissen unter Jugendlichen in den 1980erJahren berichtete, nach denen die Jugend sich vom Staat abwandte und ihr Reisefreiheit immer wichtiger wurde. Dass die Regierenden in der DDR die Ergebnisse solcher Studien nicht nur nicht wahrhaben wollten und Panzerschränken verschwinden ließen, sondern offiziell glatt das Gegenteil behaupteten - ein solches Maß an Borniertheit in der DDR-Führung ist für Jochen Hick kaum glaubhaft: "Das hätte man doch wissen können, um es zu verändern." Enkelmann erwiderte: "Das wollten die nicht wissen, denn es hätte ihre eigene Politik infrage gestellt."
Aus dem Publikum heraus unterstützte Klaus Lederer die Notwendigkeit konsequenter Geschichtsaufarbeitung. Wenn man heute als Linker fordert, in Alternativen zu denken und sagt, es könne in diesem Land so nicht weitergehen, könne man das nur dann verantwortlich tun, wenn man eine ganz klare Position zum Unterdrückungsmechanismus, zum Überwachungsstaat und Bespitzelungsapparat habe, den es in der DDR gegeben hat, forderte Lederer. "Wer das nicht kann und nicht bereit ist, das jedes Mal zu wiederholen, braucht mit dem Anspruch auf Alternativen in der Gesellschaft nicht antreten", sagte er.
Lederer bedauerte auch, dass es seit 1990 keinen Raum eine differenzierten Geschichtsbetrachtung gibt, sondern nur Anklage auf der einen und Verteidigung auf der anderen Seite. Das habe dazu geführt, dass viele nicht mehr darüber reden wollten. Auch jüngere Linke wollten das nicht, weil es mit ihrem Leben nichts mehr zu tun habe. "Das ist ein Riesenproblem", befand der frühere Vorsitzende der Berliner LINKEN und jetzige Kultursenator.
Auch stimme ihn traurig, dass es seine Partei in den letzten 25 Jahren nicht geschafft habe, sich aus einer Sündenbockrolle zu befreien, indem sie die geschichtliche Aufarbeitung mit viel größerer Konsequenz durchgezogen hätte, als sie es getan hat. Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall müsse die LINKE diese Auseinandersetzung endlich führen - mit der gebotenen Differenziertheit und Sachlichkeit.
(Bericht: Jörg Staude)
Wie funktionieren Zuhören, Gespräch, Verständigung, Streit und Konfrontation auf dem Minenfeld deutsch-deutscher Geschichtsaufarbeitung, welches noch heute mit Tabus und Redeverboten durchsetzt scheint? Dieser Frage geht Regisseur Jochen Hick in seinem neuen Film «DER OST-KOMPLEX» am Beispiel der Biografie von Mario Röllig nach und breitet vor dem/der Kinozuschauenden ein Spannungsfeld zwischen subjektiver Geschichte und historischer Wahrheit aus.
DER OST-KOMPLEX begleitet Mario Röllig, dessen Leben auch mehr als 25 Jahre nach dem Mauerfall stark von seinen Erfahrungen in der DDR geprägt ist. Mario Röllig, Jahrgang 1967, aus SED-treuem Elternhaus und offen schwul, ist einer der jüngsten und viel gefragter «DDR-Zeitzeuge». Er macht Führungen in dem zur Gedenkstätte umgewandelten ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen, in dem er selbst 1987 einsaß. Der ehemalige Kellner am Ost-Berliner Flughafen und spätere Zigarrenverkäufer im West-Berliner KaDeWe hält Vorträge vor Schulklassen, an US-Universitäten und vor der konservativen Partei, in der er heute selbst Mitglied ist. Er diskutiert mit PolitikerInnen, beteiligt sich an Mahnwachen und Demonstrationen und stößt dabei mit SympathisantInnen der ehemaligen DDR sowie BefürworterInnen sozialistischer und kommunistischer Gesellschaftsentwürfe zusammen. Diese sehen in Menschen wie Röllig GeschichtsverfälscherInnen und KommunistenhasserInnen im Auftrag des herrschenden Systems.
Mario Röllig ist kein Intellektueller. Er spricht viel über die DDR. Seine Geschichte hat ihn zum Verneiner gesellschaftlicher Utopien werden lassen. Den Begriff «Freiheit» verwendet er oft. Auch spricht Röllig über die Vorzüge des Kapitalismus, doch was versteht er darunter? Rölligs GegenspielerInnen dagegen beharren auf gesellschaftlichen Utopien. Aber sie sprechen erstaunlich wenig über die ehemalige DDR. DER OST-KOMPLEX begleitet Röllig zu seiner Familie, zu ehemaligen KollegInnen und GegenspielerInnen und erzählt ganz nebenbei die dramatische Lebensgeschichte, aus der er seine Antriebskraft bezieht.
DiskussionsteilnehmerInnen:
- Mario Röllig (Zeitzeuge)
- Jochen Hick (Filmemacher)
- Dagmar Enkelmann (Vorstandsvorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung)
Moderation: Alfred Eichhorn (Journalist)