Die Szenen sind bedrückend. Der kurze Film zeigt eine verschwommene Aufnahme, wie mehrere Mitglieder der neonazistischen Partei «Die Goldene Morgenröte» (Golden Dawn - engl., Chrysi Avgi - gr.) auf ihren Motorädern am Tatort ankommen, während die Polizei schon da ist. Kurze Zeit später ist der griechische antifaschistische Rapper Pavlos Fyssas tot – erstochen von Giorgos Roupakias, einem Mitglied von Chrysi Avgi.
Im Saal ist es mucksmäuschenstill und der Moderator Fritz Burschel muss erst einmal tief durchatmen. An die einhundert Menschen haben sich im Aquarium@Südblock am Kottbusser Tor versammelt und wollen mehr über die Möglichkeiten von Forensic Architecture (FA) wissen, bei der Aufklärung von Gewaltverbrechen der Wahrheit näher zu kommen.
Die Arbeit von FA versucht eine Lücke zu füllen: Das Fehlen von unbefangenen, aufklärenden, ehrlichen Recherchen des Staates in schwerwiegenden juristischen Fällen, vor allem da, wo die Behörden möglicherweise eine Rolle gespielt haben. Die unabhängige Institution, angebunden an die Goldsmith University in London betreibt Sisyphusarbeit. Im Fall Fyssas hieß das, aus unzähligen Polizeiberichten, Videos und Tonaufnahmen akribisch Zeiten, Bilder, Geräusche und Zeugenaussagen neben- und übereinanderzulegen, um so dem Tathergang möglich genau rekonstruieren zu können. Die Polizei hatte damals behauptet, sie wäre erst am Tatort angekommen als Fyssas schon tot war.
Mit der gleichen Akribie konnte FA zur Ermordung von Halit Yozgat im April 2016 in seinem Internetcafé in Kassel durch zwei gezielte Pistolenschüsse in den Kopf belastendes Beweismaterial erstellen. Damals war zur Tatzeit Andreas Temme, ein Mitarbeiter des hessischen Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) anwesend. Er hatte vor Gericht immer wieder behauptet, er habe weder etwas gehört, noch beim Verlassen des Internetcafes die Leiche von Yozgat hinter dem Tresen gesehen. FA konnte durch den Nachbau des Internetcafes und mehrere Tests eindeutig nachweisen, dass Temme sehr wohl die Leiche gesehen, als auch die Schüsse gehört haben muss.
Damals abschätzig als Kunst diffamiert, wurde das Material nicht im Gerichtsverfahren akzeptiert. Das Ermittlungsverfahren gegen Temme wurde im Mai 2018 eingestellt. Die internen Akten des LfV zum Fall unterliegen einer Sperrfrist von 120 Jahren.
Die Gesellschaft der Freund_innen von Halit stellte auf der Dokumenta 14 in Kassel mit dem Film «77sqm_9:26min» die Rechercheergebnisse von FA vor. Mehr als 1 Million Menschen besuchten damals die Ausstellung.
Im Fall Fyssas werden die Recherchen von FA als Beweismaterial genutzt im Prozess gegen 69 Mitglieder der Goldenen Morgenröte.
Im Aquarium diskutierten Stefanos Levidis von Forensic Architecture, Caro Keller von NSU-Watch, N.N.von Golden Dawn Watch und Ayşe Güleç von der Gesellschaft der Freunde von Halit.
Die Diskussion im Aquarium dreht sich den ganzen Abend um die beiden Kernfragen. Kann FA die Fragen beantworten, die staatliche Behörden wissentlich unbeantwortet lassen und damit zur gerechten Verurteilung der Täter beitragen? Wie schaffen wir es als Gesellschaft, in einem Klima von immer stärker werdendem Alltagsrassismus und dem salonfähig werden menschenverachtender Einstellungen an Missstände zu erinnern und Wahrheit einzufordern? Internationale Solidarität bleibt an diesem Abend keine leere Worthülse. NSU Watch und Golden Dawn Watch haben nicht aus Zufall das gleiche Namensende. Beide Projekte unterstützen sich, so gut es geht. Beide haben eng mit FA zusammengearbeitet. Denn Aufklärung tut mehr denn je not in diesen politisch düsteren Zeiten.
Der Film «77sqm_9:26min» von Forensic Architecture zeigt Beweismaterial im Mord an Halit Yozgat.
Der Film «The Murder of Pavlos Fyssas» von Forensic Architecture zeigt Beweismaterial im Mord an Pavlos Fyssas.