Dokumentation Radikaler Widerstand und konsequente Gewaltfreiheit

Eine unmögliche Möglichkeit? Die Erfahrungen des Mahatma Gandhi und heutige politische Bewegungen

Information

Veranstaltungsort

Rosa-Luxemburg-Stiftung
Franz-Mehring-Platz 1
10243 Berlin

Zeit

26.11.2018

Mit

Lars Göhler, Dagmar Enkelmann, Moderation: Michael Brie

Mahatma Gandhi (Wikimedia Commons)

Im Salon der Rosa-Luxemburg-Stiftung wurde diskutiert, ob und wie das Konzept Mahatma Gandhis eines konsequent gewaltfreien Widerstands heute anwendbar ist.

Gewaltfrei die Gesellschaft verändern

Eingangs berichtete die Stiftungsvorsitzende Dagmar Enkelmann, wie die Idee zur Veranstaltung «Radikaler Widerstand und konsequente Gewaltfreiheit - eine unmögliche Möglichkeit?» entstanden ist: Sie habe bei einer Ausstellung den Philosophen und Indologen Lars Göhler kennengelernt und sei sofort begeistert gewesen vom Thema Gandhi und Gewaltfreiheit heute.

Für Enkelmann könne dieses Problem nicht «rückwärtsgewandt», sondern müsse im Lichte heutiger Ereignisse diskutiert werden. «Was ist eigentlich Widerstand, was eigentlich ziviler Widerstand in dieser Gesellschaft? Und welche Möglichkeiten hat man, Gesellschaft  zu verändern?», fragte Enkelmann.

Sie erinnerte in dem Zusammenhang an die aktuelle Auseinandersetzung um die Abholzung des Hambacher Forsts. Die jungen Leute, die ihre Baumhäuser errichtet hatten, seien «überrannt» worden und RWE habe die Kohle weiter abbaggern können - trotz des Klimawandels und aller damit verbundenen Folgen. Erst ein Gerichtsurteil verschaffte dem Wald bekanntlich eine Atempause.

Auch Hausbesetzungen zählte Enkelmann zu den Formen zivilen Widerstands und Ungehorsams, die - realistisch gesehen - meist erfolglos blieben und bleiben. Auch Wahlen würden, wolle man wirklich in dieser Gesellschaft etwas ändern, in der Regel nicht zum Erfolg führen.

Gandhi habe diese Frage für sich anders und zwar mit einer strikten Gewaltfreiheit beantwortet, betonte Enkelmann. Er habe erfolgreiche Formen des zivilen Ungehorsams gefunden wie den berühmten Salzmarsch von 1930 und es geschafft, die britische Salzsteuer abzuschaffen.

Dennoch stelle sich für sie weiter die Frage, was Gewaltfreiheit bringen kann oder was Formen gesellschaftlichen Widerstands sind, die die Gesellschaft wirklich verändern können?

Anknüpfend daran verwies Lars Göhler darauf, dass Gandhi weltweit als Symbol für Gewaltfreiheit gelte und viele Aktionen inspiriert habe, so die Nelkenrevolution in Portugal. Gandhi habe auch großen Einfluss auf Albert Einstein, Nelson Mandela, Albert Schweitzer, Michael Gorbatschow oder Mutter Theresa ausgeübt.

Göhler, der am Institut für Südasien- und Südostasien-Studien der Uni Köln indische Philosophie lehrt, skizzierte dann den Lebenslauf und die Gedankenwelt des Mahatma',  der «großen Seele», wie Rabindranath Tagore Gandhi nannte.

Eine wichtige Rolle in Gandhis Leben spielten dessen Auslandsreisen. So schickte die Familie ihn - und verschuldete sich dafür auch - für ein Jurastudium nach London. Durch die Auslandsreise verlor Gandhi dabei seine Kastenzugehörigkeit, was ihm zeitlebens keine Ruhe ließ, wie Göhler sagte.

In London wird Gandhi von der westlichen Kultur beeinflusst. Sein ganzes Leben lang wird er auch kein «Hasser der Briten» sein, wie Göhler betonte. Gandhis Kampagnen gegen die Briten bedeuteten nicht, dass er Hass gegen die Briten hegte.

Zurückgekehrt nach Bombay in Indien scheiterte Gandhi zunächst als Rechtsanwalt, auch weil er es ablehnt, anderen Anwälten Klienten abzukaufen. Der Hauptgrund für das Scheitern sei aber Gandhis übergroße Schüchternheit gewesen, so Göhler.

Das wandelt sich erst, als Gandhi in Südafrika sein Glück versucht, dort einen Prozeß gewinnt und sich für die dort lebende indische Minderheit engagiert. In Südafrika entwickelte Gandhi dann die wichtigsten Punkte seiner Theorie der Gewaltfreiheit und des Schöpfens der Wahrheit.

Später gründet er dann in Indien einen Ashram, ein Gelehrtendorf, und entwickelte sich zu einem, so Göhler, «Virtuosen im Inszenieren von Massenereignissen.» Gandhi sei perfekt darin gewesen, die Massen zu bewegen und Symbole zu finden, die auf die Gesellschaft wirken.

Gandhi habe auch, sagte Göhler weiter, sehr gut voraussagen können, welche Elemente einer Kampagne besonders eindrucksvoll sein würden. Ab 1920 habe Gandhi dann begonnen, große Aktionen gegen die Kolonialherrschaft zu organisieren wie die No-Cooperation-Bewegung. Diese ging von der Annahme aus, dass die britische Herrschaft nur deswegen funktioniere, weil die Inder mit den Briten in deren Sinne zusammenarbeiteten - und der erste Schritt, sich davon zu lösen, sei, die Zusammenarbeit zu verweigern.

Es folgten Kampagnen wie der erwähnte Salzmarsch oder «Quit India», die die Briten zum Verlassen des Subkontinents aufforderte. 1947 wurde Indien endlich unabhängig und zugleich in zwei Länder - Indien und Pakistan - geteilt, eine Tragödie, die Gandhi ein Jahr später das Leben kosten sollte.

Göhler erläuterte einige der geistigen Konzepte Gandhis, so das der Suche nach der Wahrheit (Satya). Diese Wahrheit sei für Gandhi das Gleiche wie Gott gewesen.

Wichtig waren weiter das bescheidene Leben mit einem Verzicht auf alles, was man nicht zum Leben brauche und dem Entsagen aller weltlichen Verlockungen. Ein zentraler Punkt in Gandhis Lebensphilosophie sei die Selbstbestimmung, sowohl die eines Landes, als auch die einer Person, sagte Göhler.

Beim bekannten Konzept der Gewaltlosigkeit habe Gandhi in Indien auf eine lange Tradition aufbauen können, betonte Göhler. Fast alle indischen Religionen und Denksysteme beinhalteten ein Element der Gewaltlosigkeit, auch wenn sie sich in ihrer Geschichte nicht immer danach gerichtet hätten. 

Gandhis Konzept der Gewaltlosigkeit fuße dabei auf der einfachen Idee, keine Lebewesen zu verletzen. Das sei nicht nur körperlich gemeint, sondern Verletzungen gebe es auch durch unangebrachte Gedanken, durch Lüge und Eile oder dadurch, dass man jemandem Schlechtes wünsche.

Der Grundsatz ging für Gandhi sogar soweit, dass diese sagte, man verletze die Welt auch durch das, was man sich täglich nimmt und sei es das Essen. Konsequenteste Vertreter der Gewaltfreiheit in Indien trügen, so Göhler, ein Tuch vor dem Mund, um nicht aus Versehen ein Insekt zu töten.

Aus Gandhis Sicht, so Göhler, gehörten dabei alle Elemente zusammen - die Suche nach der Wahrheit schließe Gewaltlosigkeit und den richtigen Lebenswandel ein wie auch die Selbstbestimmung. Göhler vermutete, dass Gandhi gar nicht so sehr nach indischen Weisheiten lebte, sondern eher bei Platons Lehre des Wahren, Guten und Schönen Anleihen genommen habe.

Göhler schilderte dann, wie Gandhi eine Kampagne - nach heutigem Verständnis - plante. Zuerst galt es, ein ungerechtes Gesetz zu finden, um dieses bewusst zu übertreten. Ziel war, den, der das ungerechte Gesetz geschaffen hat, ins Unrecht zu setzen. Sein Vorgehen legte Gandhi auch bewusst offen, betonte Göhler - unter anderem auch, um einen Gegensatz zu Verschwörern zu schaffen, die ihre Pläne im Dunkeln ließen.

«Öffentlichkeit war für Gandhi von Anfang bis Ende ein wichtiger Faktor, damit auch diejenigen, deren Gesetz übertreten wird, erfahren, dass er - Gandhi - es übertreten wird», erklärte Göhler. Selbst die eigene Verhaftung am Ende des Salzmarsches habe Gandhi in der Wirkung genau einkalkuliert.

Beim Salzmarsch zeigte sich allerdings auch, worauf Göhler hinwies, die Ambivalenz der konsequenten Gewaltlosigkeit Gandhis. Als seine Gefährten versuchten, eine Salzfabrik in der Nähe der Küste zu besetzen, wurde das gewaltsam verhindert. Gandhis Gefährten ließen sich widerstandslos zusammenschlagen, wurden teilweise schwer verletzt. Gandhis Konzept der Gewaltlosigkeit und dessen Aufforderung, auch Leiden als Element der Gewaltlosigkeit zu betrachten, müsse zweifellos überdacht werden, räumte Göhler ein.

In Indien gilt Gandhi dabei noch immer - im Unterschied zu Europa - als kontroverse Person, sagte er weiter. So werde eingewandt, dass das Prinzip der Gewaltlosigkeit die Herrschaftszeit der Briten eher verlängert habe. Auch habe Gandhi das Kastensystem nie infrage gestellt. Insofern beruhe dessen Gewaltlosigkeit auf einem System andauernder und brutaler Gewalt.

Gandhi war übrigens selbst der Ansicht, sein Konzept der Gewaltlosigkeit müsse verfeinert und weiterentwickelt werden, zitierte Göhler eine Äußerung des Philosophen selbst. «Gandhis Bewegung ist auf heutige gewaltfreie Bewegungen nur schwer anwendbar», schätzte der Indologe ein. Viele politische Bewegungen könnten Gandhis nahezu fanatische Religiosität nicht teilen. Auch aus dem Grund müsse man Gewaltlosigkeit heute anders begründen und popularisieren.

Göhler ging dabei - mit Bezug auf Max Weber - auf den Unterscheid zwischen einer Gesinnungs - sowie einer Verantwortungsethik ein. Es sei ein Unterschied, ob man etwas aus einer Religion oder Gesinnung heraus tue und einem die Folgen der Handlungen ziemlich egal seien, oder ob man im Sinne einer Verantwortungsethik die Folgen und Resultate der Handlungen berücksichtige.

«Gandhis Ethik ist sehr stark Gesinnungsethik gewesen», erklärte der Wissenschaftler. Gandhi habe sich selten gedrängt gesehen, über die möglichen Folgen gewaltloser Aktionen sich zu äußern. Man müsste versuchen, seine Ethik der Gewaltfreiheit so umzuformulieren, dass diese nicht nur Gesinnungs- sondern vor allem auch Verantwortungsethik ist, also sich mit möglichen Folgen beschäftigt. «Wenn ich eine gewaltfreie Aktion mache, die in der Folge viel mehr Gewalt hervorbringt, ist niemandem gedient», sagte Göhler.

Aus der Sicht des Indologen sei es generell schwierig, Gandhi als Ikone der Gewaltfreiheit zu preisen, ohne auch dessen problematischen Seiten zu sehen. Wolle man Gandhi gerecht werden, gelte es, ein kontroverses Bild zu zeichnen. «Er hat Symbole geschaffen, die die Menschheit behalten kann, er hatte aber auch viele problematische Seiten.»

An die kontroversen Seiten Gandhis knüpfte Michael Brie, ehemaliger Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in der Diskussion an. Für ihn sei zum Beispiel problematisch, wie Gandhi seine Ehefrau behandelt habe und - ohne sie zu fragen - ein Leben im Zölibat begonnen habe. «Welche Gewalt übt jemand in einer Ehe- oder in einer zwischenmenschlichen Beziehung aus, wenn er oder sie entscheidet, sich zu verweigern. Und damit auch ganz klar Grenzen schafft», sagte Brie.

Gandhis Ideal aus hinduistischer Tradition läuft für Brie immer auch Gefahr, den Anderen als Menschen zumindest "an den Rand zu drücken." Insofern sei zu fragen, auf welchen philosophischen Grundlagen die Verantwortung dem Anderen gegenüber eingeschlossen werden kann. Brie regte an darüber nachzudenken, wie eine zeitgemäße Philosophie der Gewaltfreiheit aussehen könnte, eine Art verantwortungsvolle Strategie von Gewaltlosigkeit.

Dabei verbirgt sich, so Brie weiter, - beispielsweise hinter dem von Dagmar Enkelmann erwähnten Widerstand im Hambacher Forst - ein «fundamentales Problem». Eigentlich könne man es, sagte er, nicht verantworten, diesen Wald der Kohle zu opfern, oder bestimmte Textilien zu nutzen oder in ein Flugzeug zu steigen - kurz gesagt: Wir lebten eine Leben, in dem wir unsere eigene Freiheit nicht verantworten können. «Das wissen wir alle.»

Brie machte hier einen Unterschied zu Gandhis Situation deutlich. Die Herrschaftsstrukturen, denen sich der indische Philosoph zu seiner Zeit gegenübersah, seien mit seinen Methoden auch angreifbar gewesen. Gewaltfreier Widerstand müsse sich deswegen an den realen Herrschaftsstrukturen orientieren, betonte Brie. Diese seien bei ökologischen Fragen aber eben völlig andere als im Falle kolonialer Herrschaft. Auch in einem totalitären Herrschaftssystem wie dem Hitlers funktioniere eine Strategie wie die Gandhi überhaupt nicht, zeigte sich Brie überzeugt.

Lars Göhler verwies in seiner Antwort auf Bries Anmerkungen seinerseits darauf, dass Gandhi aus seiner Philosophie der universellen Liebe heraus die geschlechtliche Liebe abgelehnt hat. Seiner, Göhlers Ansicht nach, spielte hier schon eine Art Fanatismus eine Rolle.

Gandhi habe sich allerdings auch immer für die Rechte der Frauen eingesetzt und für diese in seinem Land auch viel getan. In seinen Visionen über ein künftiges Indien nahmen die Frauen immer, so Göhler, eine gleichberechtigte Rolle ein, wenn auch die Vorstellungen von Gleichberechtigung damals sicher andere waren als heute.

Gandhi sei schon zu seiner Zeit häufig vorgeworfen worden, ging Göhler auf einen weiteren Einwand ein, dass seine Strategie der Gewaltfreiheit nur unter den Bedingungen Indiens so gut funktioniert hat - und schon gar nicht unter denen eines Faschismus in Deutschland.

Gewaltfreiheit ist, erklärte Göhler, immer kontextuell bestimmt - zu fragen sei, in welcher Gesellschaft man lebe, gegen wen es gehe und unter welchen Bedingungen man ein gewaltfreie Aktion inszeniere. Wolle man wirklich langfristig Erfolg haben, müsse aus der Gesinnungsethik Gandhis eine Verantwortungsethik erwachsen, die auch an die Spätfolgen denke, bilanzierte der Wissenschaftler.

 
Jörg Staude