Was sind die Forderungen der Gesellschaft der Vielen an die Politik und wie kann und muss diese darauf reagieren? Wie können Rassismus- und Diskriminierungsstrukturen offen benannt und bekämpft werden? Und wie können gemeinsame Bündnisse aussehen? Diese und weitere Fragen wurden auf der Konferenz «Haymat – Anforderungen an linke Politik für die Gesellschaft der Vielen» behandelt, an der vom 5. bis 7. April 2019 in den Räumlichkeiten des Kulturzentrums Pavillon in Hannover über 150 Gäste und Referent*innen teilnahmen.
Im Kontext der sich immer weiter verschärfenden Migrationsdebatte sollte das Ziel der Konferenz die Schaffung eines Raumes sein, der dem negativ konnotierten Diskurs um Migration ein positives, von Erfahrungen geprägtes Verständnis entgegensetzen sollte. Basis hierfür bildeten die Forderungen und Erfahrungen der migrantischen Selbstorganisationen und Akteur*innen. In thematisch vielfältigen Workshops, Podiumsgesprächen, Lesungen und Filmvorführungen wurden Erfahrungen mitgeteilt und Probleme und Kritik diskutiert. Die im Anschluss von Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Akteur*innen der Migration formulierten Forderungen richteten sich an eine Migrationspolitik, die die Gesellschaft der Vielen repräsentieren sollte.
Das Format der Konferenz hatte zum Ziel, migrantische Verbände und Akteur*innen unterschiedlicher Hintergründe und Themensetzungen in das Programm der Konferenz aufzunehmen. Alle Workshopleiter*innen und der Großteil der Podiumsteilnehmer*innen setzten sich aus Personen zusammen, die entweder im Kontext migrantischer Arbeit und Selbstorganisationen tätig sind oder über Erfahrungen in diesem Bereich verfügen.
Unter den Teilnehmenden befanden sich sowohl große bundesweite Dachverbände wie die Neuen Deutschen Organisationen (NDO), der Bundesverband Netzwerke für Migrantenorganisationen (NEMO) als auch Vertreter*innen diverser weiterer Organisationen, die in den Bereichen Migration und Selbstorganisationen tätig sind – u.a. International Women Space, Alevitische Gemeinde Deutschland, NSU-Tribunal, Türkische Gemeinde in Deutschland, Hessischer Flüchtlingsrat, Initiative Schwarze Menschen in Deutschland und korientation e.V.
Vertreterinnen der Partei DIE LINKE waren ebenfalls auf der Konferenz anwesend – Gökay Akbulut (MdB und Integrations- und Migrationspolitische Sprecherin der Linksfraktion), Christine Buchholz (MdB; Fraktion DIE LINKE), Janine Wissler (Stellvertretende Bundesvorsitzende der Partei DIE LINKE; Fraktionsvorsitzende der Partei Die LINKE im Hessischen Landtag) und Cansu Özdemir (Co-Fraktionsvorsitzende der Fraktion DIE LINKE in der Hamburgischen Bürgerschaft). Sie reagierten auf die gesammelten Forderungen in direktem Austausch mit den Teilnehmenden. Wichtig war dies im Kontext der intensiv geführten innerparteilichen Migrationsdebatte, die bei vielen Akteur*innen der Migration eine Distanzierung zur Folge hatte. Kritik wurde durch die Vertreterinnen angenommen und sowohl hinsichtlich innerparteilicher Repräsentations- und Partizipationsstrukturen als auch bezüglich der Migrationsdebatte in der Partei Selbstkritik geübt.
Die Hauptforderungen, die aufgenommen werden konnten, setzten sich zum großen Teil aus Anerkennungsfragen zusammen. Antidiskriminierungsstellen und -politiken wurden gefordert und verbindliche Partizipations- und Repräsentationsregeln sollten umgesetzt werden – auch in der Partei DIE LINKE. Weitere Punkte, die im Vordergrund standen, waren eine stärkere Geschichtsschreibung aus migrantischer Perspektive, eine bessere Aufarbeitung des NSU-Komplexes und weiterer rechtsextremer Anschläge (wie z.B. den Brandanschlag vom 26. August 1984 in Duisburg), die Stärkung einer antikolonialen Erinnerungskultur, Politiken zur Benennung von Behördengewalt und ihrer Aufarbeitung und eine intensivere Bezugnahme auf migrantisch situiertes Wissen.
Die Linke und die Einwanderungsgesellschaft
Antirassistische Forderungen bildeten einen Schwerpunkt auf der Konferenz. Rassismus in staatlichen Institutionen und insbesondere im Bildungswesen stärker in den Blick zu nehmen wurde hier besonders betont. Konkret umgesetzt werden soll dies durch unabhängige und geschulte Antidiskriminierungsstellen für Schulen, systematische Erhebungen von Rassismusvorfällen und der Verankerung von Rassismuskritik in der Lehrer*innenausbildung und – weiterbildung. Den wesentlichen Punkt stellte der Wunsch dar, in Deutschland ein neues Verständnis von pluraler und diverser Migrationsgesellschaft anzustreben. In Schulen müsse ein Umdenken bezüglich dieser Themen stattfinden.
Für eine linke Politik bedeute dies, eine Politik zu entwerfen, welche die Bekämpfung von alltäglicher, institutioneller und struktureller Diskriminierung betont und bestärkt. Im Kontext von institutionellem Rassismus rückten insbesondere rassistische Vorfälle und Strukturen in Behörden in den Fokus. Für diese gelte es besonders den Blick zu schärfen, sie offen zu benennen und Maßnahmen zu ergreifen.
Eine weitere wichtige Forderung war auch die nach der Verbindung der Kämpfe untereinander. Als eine gute Möglichkeit zur Verbindung der Forderungen von Geflüchteten mit anderen Themen wurden unter anderem der Frauenstreik, der Klimastreik und die stattfindenden Kämpfe in Bereichen der prekären Arbeitsbedingungen wie z.B. der Streik der outgesourcten Arbeiter*innen im Berliner Charité-Krankenhaus erwähnt. Kritik kam beim Thema unsichere Bleibeperspektiven auf. Linke Politik müsse sich stärker für ein bedingungsloses Bleiberecht und einen sicheren Aufenthalt von vulnerablen Bevölkerungsgruppen wie z.B. Roma einsetzen. Auch eine stärkere Berücksichtigung der Forderungen von Minderheiten und migrantischen Communities und eine intensivere Wissensakquise speziell über diese Bevölkerungsgruppen fanden Einzug in den Forderungskatalog.
Ergänzend hierzu wurde im Konkreten betont, dass z.B. das Wissen um die asiatisch-deutsche (Migrations-) Geschichte bislang vor allem in den eigenen Communities besteht, aber kaum Eingang in deutsche Diskurse gefunden hat. Zusammenhänge von Hyperfeminisierung/ Fetischisierung und physischer rassistischer Gewalt bis hin zu Morden an asiatisch-deutschen/europäischen Menschen müssten stärker in den Fokus genommen werden. Vor allem gehe es darum, gesellschaftliche Machtstrukturen intersektional in den Blick zu nehmen.
Probleme tauchen auch im Themenfeld Antimuslimischer Rassismus auf. Der Wunsch nach einer stärkeren Befassung durch politische Öffentlichkeitsarbeit, Plattforming und pädagogischen Fortbildungen folgte als Konsequenz zur Herausarbeitung rassistischer Strukturen, die sich insbesondere an Menschen mit muslimischem Hintergrund richten. Linke Politik müsse sich auch mit dieser Thematik stärker auseinandersetzen.
Im feministischen Kontext richtete sich die Kritik besonders an fehlende intersektionale Strukturen, auch in deutschen Feminismen. Kritisiert wurde der fehlende klassenübergreifende Charakter und die nicht ausreichend berücksichtigte Perspektiven von Menschen mit Migrationsgeschichte. Gefordert wurde weiterhin, feministische Räume zur Artikulation zu öffnen und rassismuskritischer zu gestalten.
Abgerundet wurde das Programm durch eine Lesung der Daughters and Sons of Gastarbeiters, die in künstlerisch-performativer Form autobiografische Geschichten aus ihrer Familiengeschichte erzählten und einer Lesung zum Buch „Eure Heimat ist unser Albtraum“. Der Dokumentarfilm «Duvarlar» des Regisseurs Can Candan, der 1991 den Fall der Berliner Mauer aus der Perspektive türkeistämmiger Berliner*innen betrachtet, rahmte die Vertiefung in Erfahrungen migrantischer Perspektiven.
Viele der auf der Konferenz gesammelten Forderungen finden leider nur wenig Anklang in der von Aus- und Abgrenzung geprägten Migrationsdebatte in Deutschland. Dabei basieren wesentliche Punkte einer gerechteren und vielfältigeren Gesellschaft auf den Kämpfen und Erfahrungen von Menschen mit Migrationsgeschichte. Diese stärker in den Fokus zu nehmen und sie als elementares Merkmal einer Gesellschaft der Vielen festzuhalten, sollte das Ziel einer von links geprägten Migrationspolitik sein.
Efsun Kizilay, Juni 2019