Die Ausdauer der über 40 jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Serbien, Kroatien, Slowenien und Mazedonien war erstaunlich. Während sich in der gemütlichen Donaustadt Novi Sad am ersten Juliwochenende sommerliche Urlaubsatmosphäre ausbreitete, diskutierten die Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Kinosaal des Museums für Moderne Kunst vier Tage lang über Politik, Kultur und kritische Gesellschaftsanalyse in Südost Europa. Und nachts wurden die Debatten in den Innenstadtkneipen bis in die frühen Morgenstunden fortgesetzt.
Gesprächsstoff gab es offenbar genug. Das Thema der ersten Sommerschule der Rosa Luxemburg Stiftung in Südost Europa war auch sehr breit gefächert. Ziel der Diskussionen war es, eine kritische Debatte zum im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs vorherrschenden Konzept der „Transition“ in Gang zu setzen. In sieben Panels wurden ganz unterschiedliche Aspekte problematisiert. Schwerpunkte lagen bei ökonomischen und sozialen Themen. Aber auch Geschichtsrevisionismus und kulturelle Entwicklungen wurden diskutiert. Ein Panel befasste sich mit Geschlechterverhältnissen. Zum Abschluss wurden emanzipatorische politische und künstlerische Praxen zur Diskussion gestellt.
Der Begriff „Transition“ gehört im Sprachgebrauch in Südosteuropa seit dem Fall der Berliner Mauer 1989 zum politischen Standardvokabular. Im vorherrschenden Diskurs bezeichnet er dabei gleichermaßen eine analytische Kategorie, ein Programm und eine Wunschvorstellung. „Transition“ beschreibt nicht nur die weitreichenden gesellschaftliche und politische Veränderungen in den „postkommunistischen“ Gesellschaften im Südosten Europas sondern gibt auch ein Ziel vor: Im Prozess der „Transition“ sollen sich die Gesellschaften in Richtung einer liberalen Marktwirtschaft und Demokratie nach westlichem Vorbild entwickeln.
Wie während der Sommerschule deutlich wurde, mehren sich in Südost Europa aber die Stimmen, welche das Konzept der „Transition“ grundsätzlich in Frage stellen. Und das gleich auf mehreren Ebenen: Wie einige Teilnehmer bereits im ersten Panel zum Thema „Transition oder Transformation“ deutlich machten, verliert das Konzept seinen analytischen Wert. Tatsächlich macht es zwanzig Jahre nach dem Zusammenbruch des Sozialismus immer weniger Sinn, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen durch das Prisma des „Postkommunismus“ zu betrachten. Die Gesellschaften Südost Europas sind längst im Kapitalismus angekommen oder in vielerlei Hinsicht sogar „kapitalistischer“ als der Westen.
Aber auch die programmatische Dimension der „Transition“ verliert an Attraktivität. Denn es wird immer deutlicher, dass die Durchsetzung von liberaler Marktwirtschaft und Demokratie ihre Glücksversprechen nicht einhalten können. Im Gegenteil zeigen sich viele wachsende strukturelle Probleme, die mit der neuen Ordnung verbunden sind. Dazu zählen schnell wachsende soziale Widersprüche und die ökonomische Peripherisierung des Südosten Europas genauso wie die Kraft des ethnischen Nationalismus und die Retraditionalisierung der Gesellschaften.
Wie die Referentinnen und Referenten in den Panels zu den Themen „Modernisierung oder Pheripherisierung“, „Geschichtsrevisionismus und neue Mythen“ sowie „Frauen – neue Rollen, alte Erwartungen“ an vielen Beispielen deutlichen machten, stellen diese negativen Entwicklungen keineswegs lediglich „Deviationen“ dar, die im weiteren Verlauf der „Transition“ zu korrigieren sind. Im Gegenteil wird deutlich, dass die Probleme im Kern der „Transition“ selbst stehen.
So offenbart beispielsweise der aktuelle Zusammenbruch des kreditfinanzierten Wirtschaftswachstums der vergangenen Jahre lediglich die strukturelle ökonomische Schwäche der Region, die im weitgehenden und fortgesetzten Deindustrialisierungsprozess der vergangenen zwanzig Jahre zu suchen ist.
Auch das Anwachsen von Nationalismus und Klerikalismus sind keine Randerscheinungen. Die Hinwendung zum ethnischen Nationalismus und zur Religion stehen vielmehr im Zentrum der Suche nach neuen „postkommunistischen“ Identitäten, die an das oft reaktionäre ideologische Erbe der „vorkommunistischen“ Nationalstaatsprojekte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts anknüpfen.
Besonders brisant und gefährlich wird dieser Trend in den geschichtsrevisionistischen Diskursen zum Zweiten Weltkrieg. Unter den Vorzeichen des Antikommunismus werden dabei faschistische und kollaborationistische Bewegungen zu positiv besetzten Identifikationspunkten aufgewertet. Dieser Trend umfasst die ganze Region und ist derzeit vor allem in Ungarn besonders virulent.
Im Panel zu den Geschlechterverhältnissen arbeiteten die Referentinnen heraus, wie die ökonomische und ideologische Umstrukturierung der Gesellschaften ein neues Frauenbild und neue soziale Rollen von Frauen erzeugen. Im Kontext der Retraditionalisierung und Klerikalisierung wird Frauen das Recht auf gleichberechtigte Partizipation bestritten. Gleichzeitig tragen sie aber die Hauptlast bei der Reproduktion der Familien und sind von der ökonomischen Umstrukturierung besonders negativ betroffen.
Das Bild der „Transitionsgesellschaften“ in Südost Europa, welches während der Sommerschule gezeichnet wurde, war wenig optimistisch. Dennoch herrschte unter den Teilnehmerinnen und Teilnehmern Optimismus vor. Dieser bezog sich vor allem darauf, dass gesellschaftskritische und linksorientierte Positionen in Südost Europa langsam wieder an Gewicht gewinnen. Die Linke ist zwar noch immer schwach und fragmentiert. Aber es zeigen sich neue Ansatzpunkte.
Ein Ausweis dafür war die Sommerschule selbst. Die Beiträge der Referentinnen und Referenten waren fast alle auf hohem wissenschaftlichem Niveau. Das Durchhaltevermögen der Teilnehmerinnen und Teilnehmer zeigte gleichzeitig intensives Interesse an der kritischen Analyse der Gegenwart und der Suche nach Alternativen.
Boris Kanzleiter, Leiter des Regionalbüros Südost Europa der RLS in Belgrad