«Sie haben uns geschlagen.» Ein junger Mann, nennen wir ihn Kamil, zeigt uns das große Hämatom am Bein. Sie schlagen so sehr mit Schlagstöcken auf die Beine, dass die Flüchtlingen nicht mehr laufen können. Sein Freund nimmt die dunkle Sonnenbrille ab. Das linke Auge ist blau unterlaufen. Beide haben, wie so viele andere auch, versucht, illegal über die serbisch ungarische Grenze zu kommen. Schon mehrmals - ohne Erfolg. Sie werden geschlagen, gedemütigt, schikaniert. Man nimmt ihnen alle Sachen ab, übergießt sie mit kaltem Wasser und schickt sie in Unterhosen zurück auf serbisches Territorium.
Seine prügelnden Schergen reichen Viktor Orban noch nicht. Zusätzlich will er zeitnah einen Gesetzesentwurf vorlegen, der es ermöglichen soll, all die wenigen, die es doch irgendwie über die Grenze schaffen, zu inhaftieren. Ob die Aufforderung von Human Rights Watch und der ungarischen Abteilung des Helsinki Komitees vom 24. Februar an die Europäische Kommission, sofort zu intervenieren und die Durchsetzung des Gesetzesentwurfs zu verhindern, Erfolg haben wird, ist eher ungewiss. Die ungarischen Verletzungen des europäischen Rechts durch das Durchführen sogenannter Push-Backs (Zurückdrängung von Flüchtlingen an Grenzen) und auch die gewalttätigen Misshandlungen der Flüchtlinge sind strafbar. Es ist in Europa in Europa verboten – bleibt aber bisher ungeahndet. An der bulgarischen Grenze geht es nicht freundlicher zu. Auch von der kroatischen und slowenischen Grenze wird immer wieder von Push backs berichtet. Im 21. Jahrhundert gibt es Mitgliedsländer einer Europäischen Union, die ungestört und ungestraft gegen geltendes Menschenrecht und europäische Regeln verstoßen können.
Wir hatten erwartet, dass unsere Reise zu den auf der Balkanroute gestrandeten Geflüchteten nicht leicht werden würde. Aber diese massiven Menschenrechtsverletzungen, die wir sehen, als die Männer uns ihre Wunden zeigen, übersteigt dann doch wieder alles Vorstellbare – zu tief saß unser falscher Glaube an den europäischen Rechtsstaat.
Die Delegationsreise zur Situation Geflüchteter in Serbien am 25. und 26. Februar 2017 beinhaltete Besuche in Flüchtlingsunterkünften und Hotspots für Gestrandete in Belgrad und Umgebung sowie Gespräche mit Regierungsverantwortlichen und ExpertInnen. Die Reise wurde organisiert von dem RLS-Büro und der Deutschen Botschaft in Belgrad.
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An Ungarns Grenze dürfen derzeit noch Montag bis Freitag an zwei Transitzonen jeweils fünf Menschen täglich nach Ungarn einreisen. Viele davon werden wieder nach Serbien zurückgeschickt. In serbischen Flüchtlingslagern warten derzeit um die 8.000 Geflüchtete auf einer von den Geflüchteten und NGO's selbst angefertigten Liste darauf, an die Reihe zu kommen. Allein die Weitereise dieser 8.000, würde mehre Jahre dauern. Die meisten kommen aus Afghanistan, weniger aus Pakistan, Syrien und dem Irak. Aus Ländern also, in denen Krieg herrscht. Manchmal mehr, manchmal weniger. Zu den 8.000 bereits in Serbien wartenden Menschen, werden demnächst weitere kommen. Das Wetter wird wärmer. Die Konditionen besser. Viele werden sich wieder auf den Weg nach Europa machen.
In Artikel 14 der Erklärung der Menschenrechte heißt es: «Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen.» Die Genfer Flüchtlingskonvention präzisiert in ihrem Artikel 33: Keiner der vertragschließenden Staaten wird einen Flüchtling auf irgendeine Weise über die Grenzen von Gebieten ausweisen oder zurückweisen, in denen sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde. In Europa leitet sich dieses auch aus Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention «Niemand darf der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden.»
Aber wo sind die Menschenrechte? Wo sind die Lehren aus dem Zweiten Weltkrieg? Wo ist Europa? Es wäre doch ein leichtes, mit der Streichung von EU Transfergeldern Ungarn und Bulgarien zu sanktionieren. Doch die Drei-Affen-Politik macht alles so viel einfacher.
Wir sehen nichts – wir hören nichts – wir sagen nichts. Orban verletzt Menschenrechte. Wir sehen es nicht. Hauptsache es kommen nicht so viele. Erdoğan missachtet demokratische Grundrechte – wir sagen es nicht. Hauptsache der Türkeideal steht. In Afghanistan werden Menschen verfolgt, gefoltert, getötet – wir hören es nicht. Für unsere Regierung ist es ein sicheres Herkunftsland. Hauptsache es gehen schnell wieder viele.
Im Flüchtlingstreffpunkt Info Park sind wir zu Gesprächen verabredet. Hier versucht man unkonventionell und mit viel Herz und Empathie möglichst schnell Hilfe zu leisten. Am Tisch wird es eng. Zwei afghanische Familien sind vor wenigen Stunden eingetroffen und warten auf einen Platz in einem der serbischen Flüchtlingslager. Seit Tagen sind sie zu Fuß von der mazedonischen Grenze unterwegs. An die 3.000 € hat die eine Familie einem Schlepper in Afghanistan gezahlt. Doch sie waren zu langsam unterwegs. Als sie in Griechenland ankamen, war die Balkanroute schon geschlossen. Zwei Töchter gingen auf der Schiffsreise zwischen der Türkei und Griechenland verloren.
Die Angst und Not die aus ihren Gesichtern spricht, ist so groß, dass es unmöglich wird, ein normales Informationsgespräch zu führen. Stille Tränen fließen. Die Kinder greifen zu den Äpfeln, die wir in unserer Hilflosigkeit aus den Taschen kramen. Der IS kam in den kleinen Laden des Vaters, als er nur kurz weg war und seine Tochter, die gar nicht dort arbeitet, allein zurückgelassen hatte. Frauen dürfen nicht arbeiten. Die IS Männer, die kurz darauf den Laden betraten, überschütteten sie mit kochend heißem Wasser aus dem Samowar und drohten dem Vater mit dem Tod, als er zurückkam, sollte das Mädchen nochmal alleine im Laden sein. Aus Angst machte er sich auf den Weg.
Die MitarbeiterInnen zeigen uns eine Kinderzeichnung. Eine Frau hängt an einem Kreuz. Überall Blutspritzer. Ein Bild gemalt von einem Kind, das mit dem Vater allein in Serbien ankam. Sie flohen, nachdem der IS die Mutter tötete. Der kleine einfache Laden von Info Park ist voller solcher Menschen mit solchen Geschichten. Niemand hier ist aus wirtschaftlichen Gründen geflüchtet. Die europäischen Regierungen nennen diese Menschen schon gerne wieder Migranten. Dann ist leichter zu legitimieren, dass sie nicht mehr ihrer Aufgabe des Flüchtlingsschutzes nachkommen müssen. Die Menschen hier sind aber Flüchtende. Sie werden verfolgt. Sie brauchen Schutz.
Aus der Traum
Noch schlägt sich Serbien wacker. Wenn auch mit großen Defiziten. Aber es gibt so etwas wie einen humanen Umgang mit den Menschen. Keine Brandanschläge auf Flüchtlingscamps, keinen Rassismus auf offener Straße. Man arrangiert sich, einige helfen aufopfernd, die anderen sind entspannt. Auch die Roma, die manchmal in unmittelbarer Nähe der Flüchtlingscamps unter schlechteren Bedingungen und ohne Strom und Wasser leben müssen, bleiben gelassen. Hier muss ein Problem der EU in einem nicht EU Land gelöst werden. Es fehlt an Geld. Die EU zahlt zwar für die Geflüchteten. Aber wesentlich weniger als ihren Mitgliedern Bulgarien und Ungarn. Doch das kleine Land wird scheitern, wenn der Zustrom übers Jahr ansteigt. Serbien kann die Grenzen nicht schließen. Im Süden ist es fast überall bergig. Fast ist es ein Glück auch wenn so viele unter so schlechten Bedingungen hier leben.
Um was geht es hier also? Die EU muss ihre Mitgliedsländer zur Einhaltung des Flüchtlingsschutzes und des Rechts auf Asyl verpflichten und Verstöße sanktionieren. Europa muss Serbien finanzielle Mittel zur Verfügung stellen, um nicht nur aber am dringendsten den Schulbesuch der geflüchteten Kinder sicherzustellen. Die deutsche Regierung muss die Einschätzung Afghanistans als sicheres Herkunftsland rückgängig machen. Europa muss zu einer gemeinsamen politischen Lösung der Flüchtlingssituation kommen. Alle ankommenden Geflüchteten sollen in die europäischen Länder integriert werden. Dabei sollte den Wünschen der Geflüchteten nach bestimmten Aufenthaltsorten möglichst Rechnung getragen werden.
Kamil zieht sich wieder zurück. Seine Suppe ist alle. Die einzige warme Mahlzeit, die die Männer hier in den illegalen Behausungen hinter dem Busbahnhof von der NGO Hot Food Idomeni bekommen. Er wird wieder versuchen über die Grenze zu kommen, wie alle anderen auch, die flüchten vor einem Leben in Angst und Not, dass auch die EU mit verantwortet.