Am 16. April 2017 steht das Referendum zur geplanten Verfassungsänderung hin zu einem Präsidialsystem in der Türkei an. Alle Augen im In- und Ausland sind auf das Ergebnis gerichtet. Wird es ein «Ja» oder wird es ein «Nein»? Auch wenn die Umfragen der Ablehnung einen kleinen Vorsprung vorhersagen: es deutet sich ein knappes Rennen an, das vor allem von den noch unentschiedenen Wählern bestimmt werden wird. Doch die Aufmerksamkeit muss früher ansetzen. Sie muss auf der Chancengleichheit liegen und die Ausgangsbedingungen der beiden Kampagnen analysieren. Wie sieht es da in der Türkei aus?
Auf der einen Seite steht das Nein-Lager, das von der demokratischen und linken Opposition in all ihrer Vielfalt geführt angeführt wird. Da ist die Demokratische Partei der Völker HDP, die zivilgesellschaftlichen Bündnisorganisation Demokratischer Kongress der Völker HDK, und da sind Teile der Republikanischen Volkspartei CHP. Es sind fortschrittliche Menschen, linke GewerkschafterInnen, Frauen-Aktivistinnen und Aktive aus sozialen Bewegungen, die zum größten Teil die «Nein»-Front bilden. Es ist die andere Türkei, die im Moment zu wenig Aufmerksamkeit bekommt. Sie steht aber unter massivem Druck: Täglich gibt es Meldungen über Angriffe auf Menschen, die für das «Nein» werben.
In Antalya wurden bereits Anfang Februar drei junge Männer kurzfristig festgenommen, weil sie Plakate geklebt hatten auf denen «Der Wille von 80 Millionen kann nicht einer einzigen Person überlassen werden» stand. Wegen «schlechten Benehmens» mussten sie eine Geldstrafe zahlen.
Mitte März wurde im Istanbuler Stadtteil Yesilkent auf HDP-AktivistInnen, die für ein «Nein» mobilisierten, geschossen. Nur durch einen Zufall gab es keine Verletzten oder Toten.
Allein während diese Zeilen geschrieben werden, gehen zwei weitere Meldungen über den Ticker: In Ankara wurden elf Menschen, die «Nein»-Flugblätter verteilt haben von der Polizei festgenommen und in Istanbul wurden Mitglieder der linken Juni-Bewegung ebenfalls beim Verteilen von Flugblättern für ein «Nein» mit einem Messer angegriffen.
Diese vier alltäglichen Beispiele sind nur die Spitze eines Eisbergs an strukturellen Ungleichheiten der Kampagnen für das «Ja» oder «Nein». Fast 10.000 Politiker der HDP wurden in den letzten 18 Monaten in Polizeigewahrsam genommen, 3000 befinden sich immer noch im Gefängnis. Darunter 13 gewählte Parlamentsabgeordnete und mehr als 750 Kreis- und Provinzvorsitzende, sowie weitere Vorstandsmitglieder. Hinzu kommen mehrere tausend inhaftierte kurdische AktivistInnen verschiedener zivilgesellschaftlicher Organisationen, die vor allem an der Basis und in den Stadtvierteln verankert waren und dort mobilisiert hätten. Schätzungen gehen von insgesamt mehr als 10.000 politisch Aktiven aus, die derzeit hinter Gittern sind. All diese Menschen hätten im Normalfall das organisatorische Rückgrat einer starken «Nein»-Kampagne gebildet. Mitglieder der CHP sitzen zwar (noch) nicht im Gefängnis, aber die Repression gegen die HDP und die linken Kräfte in der «Nein»-Kampagne wirkt auch einschüchternd auf die GegnerInnen des Präsidialsystems in der CHP. Zudem ist die Partei durch innere Streitigkeiten um die politische Ausrichtung und das Verhältnis zum Staat gelähmt.
Auf Seiten des «Ja»-Lagers hingegen steht einer zum Staat gewordenen AKP neben dem eigenen Parteiapparat und seinen ökonomisch gut ausgestatteten und teils militanten Vorfeldorganisationen außerdem der Staatsapparat samt seinen Sicherheitskräften zur Verfügung. Insbesondere nach dem Putschversuch vom 15. Juli 2016 konnte die AKP massiv potentiell oppositionelle und dissidente Kräfte aus dem Staatswesen und dem Militär drängen: Echte oder vermeintliche Gülen-AnhängerInnen, KurdInnen, GewerkschafterInnen oder sonstige KritikerInnen. So häufen sich Berichte von LehrerInnen, Gouverneuren und anderen Beamten, die öffentlich für das «Ja» werben, obwohl sie formell der staatlichen Neutralität verpflichtet sind. Passt der AKP eine oppositionelle «Nein»-Aktivität nicht, schickt sie einfach eine ihrer militanten Vorfeldorganisationen – oder gleich die Polizei. Dabei ist dieses «Schicken» nicht als direkter Befehl zu verstehen. Durch die verbale Gleichsetzung der Opposition mit Terroristen jeglicher Art greifen ihre radikalisierten AnhängerInnen auch ohne persönliche Aufforderung an, wissen sie doch, dass sie im Zweifel von der politischen Justiz geschützt werden. Auch der seit mehr als acht Monaten ausgerufene Ausnahmezustand führt zu struktureller Benachteiligung des «Nein»-Lagers. So wurden in vielen kurdischen Städten einfach wochenlange Demonstrations- und Versammlungsverbote erlassen. Infotische und andere «Nein»-Aktionen werden so unmöglich gemacht. Das Tüpfelchen auf dem I ist dabei eine Medienlandschaft, die zu 95 Prozent in den Händen AKP-naher Unternehmer liegt und die Tag und Nacht Werbung «für eine starke Türkei und ein starkes Ja» macht, während auch die letzten noch verbliebenen unabhängigen Medien geschlossen und hunderte kritische JournalistInnen ins Gefängnis gesteckt werden. Die kurdische und linke Opposition ist seit Monaten von so gut wie jeder Talkshow ausgeladen, ihre Standpunkte spiegeln sich im medialen Mainstream nicht wieder.
An ihrem Vorgehen gegen die «Nein»-Kampagne wird die Doppelmoral der AKP mehr als deutlich. Während sie in Europa angesichts der Auftrittsverbote türkischer PolitikerInnen lauthals auf Demokratie, das Versammlungsrecht und Gleichberechtigung pocht, begrenzt sie den Spielraum der «Nein»-Aktivisten im eigenen Land auf Gefängniszellen von 2 x 5,5 Metern Größe.
Dennoch: Trotz dieser strukturellen Ungleichheit organisiert sich derzeit eine Graswurzelbewegung des «Neins», die mit kreativen Aktionen und zivilem Ungehorsam für Aufmerksamkeit sorgt und der AKP Angst einflößt, da diese nicht so einfach zu kontrollieren ist. Diese Bewegung von unten ist die andere Türkei, von der wir in Zukunft noch viel hören werden.