Pop- und Rock-Musik ist ein zentraler Faktor des politischen und kulturellen Umbruchs der 1960er Jahre gewesen. Mittelweg 36, die seit Ende 1992 erscheinende Hauszeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung hat nun einem Doppelheft sieben Artikel und ein Interview unter der Titelaussage „Wenn Pop Geschichte wird“ zusammengestellt.
Der Beitrag von Detlef Siegfried ist mit 44 Seiten der umfangreichste. Er fragt anhand vieler Quellen nach dem Gebrauchswert der damals gängigen These, Rockmusik sei der (amerikanischen) Gegenkultur entsprungen oder historisch sonst irgendwie „von unten“ gekommen. Dies wird anhand der in den 1970er in deutschen linken Medien geführten grundsätzlichen und auch schon: Ausverkaufsdebatte und v.a. am Beispiel von Bob Dylan beispielhaft nachvollzogen. Der Bogen reicht bei Siegfried vom (angeblich besonders authentischen) Blues, Reggae und Folk über die „Umsonst und Draußen-„ oder „Rock gegen rechts“-Festivals bis zum Fremdeln der Sponti-Linken mit dem Punk am Ende des Jahrzehnts.
Diese Authentizitätsvorstellung und die damit verbundene Emanzipationserwartung wird auch in anderen Beiträgen kritisch aufgegriffen. Der Beitrag „Fliegende Klassenfeinde“ von Jens-Christian Rabe (Süddeutsche Zeitung) mit dem etwas sperrigen Untertitel Affirmation als Subversion oder die Geburt der deutschen Poptheorie aus dem Verdruss über linksalternativen Authentizitätskult und Schweinerock ist open access (PDF hier). Klaus Nathaus unterzieht einige historiografische Annahmen über Popkultur einer Kritik. Isabel Richter untersucht das widersprüchliche Feld, in dem in den 1960er und 1970er Jahren Pop, Drogen und östliche spirituelle Lehren wie Zen oder Yoga im globalen Nordwesten in einer semi-religiösen Bricolage zusammengeführt wurden. Alexander Simmeth berichtet über Krautrock (Can, Amon Düül), während zwei detaillierte Lokalstudien die Perspektive nochmals weiten: Stefan Krankenhagen schreibt über popkulturelle Orte in Hildesheim, und Joachim Landkammer erzählt anhand einer Band von Rockmusik in der Provinz, im konkreten Fall der unterfränkischen zwischen Bamberg und Schweinfurt. Diese zwei Beiträge sind eine wirkliche Bereicherung, da sie Räume jenseits der urbanen Metropolen untersuchen.
Die Texte sind bis auf das banale Interview mit Wolfgang Kraushaar alle sehr lesenswert und werden durch die von Kraushaar erstellte Protestchronik (die Rock gegen Rechts im Juni 1979 in Frankfurt/Main zum Thema hat) gut ergänzt. Sie liefern wichtige Impulse zum noch lange nicht auserforschten Verhältnis von „(Gegen-)Kultur“ und Linksradikalismus.
Der mit Heft April 2015 begonnene optische und personelle Relaunch von Mittelweg 36 hat die zwischen Politik-, Geschichts- und Kulturwissenschaften angesiedelte Zeitschrift wieder etwas spannender gemacht. Es bleibt zu hoffen, dass diese sanfte Repolitisierung sich fortsetzt. Notwendig in diesen (düsteren) Zeiten wäre es.
Mittelweg 36, Heft 4-5, Oktober/November 2016, 204 Seiten, 18 EUR