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Günter Piening zu Anliegen und Inhalten der Interviewreihe «Migrationspolitik als Transformationspolitik»

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Günter Piening

Hat Migration ein besonderes Zeitalter? Wenn ja, dann befinden wir uns sicher in selbigem. An der Beschäftigung mit Migration kommt niemand vorbei. Migration betrifft Alle. Überall.

«Migration» meint mehr als den eigentlichen Akt des Weggehens, des Unterwegsseins, des Ankommens, mehr als die Zahl von 250 Millionen Migrant*innen, die die Statistik der UNO aufführt. Migration ist zu einem Auslöser geworden für gesellschaftliche Debatten, wissenschaftliche Diskurse und politische Kräfteverschiebungen, für mediale Hassattacken und manifeste Gewalt. Migration ist Resonanzboden für unterschiedlichste Konfliktthemen und –ebenen: Globalisierung, Grenze, Nationalstaat, nationale Identität, Solidarität und Konkurrenz, Gerechtigkeit, Lebensstil ...

Hinter den politischen Konflikten um Grenzen und Verteilungsfragen verbirgt sich eine viel tiefer liegende essentielle Frage: Wer ist «Wir», das politische Subjekt, und wer gehört nicht dazu?
 

Einerseits: Die plurale Gesellschaft in der Defensive ...

Wie stark dieses Phänomen «Migration» wirkt, erleben wir heute in der europaweiten Verschiebung der Kräfteverhältnisse zwischen den politischen Lagern: Migrationsfragen sind ein Treibsatz für den Vormarsch national-konservativer und rechter Positionen. Vertreter*innen von an Solidarität, Menschenrechten und Chancengleichheit ausgerichteten Positionen sind in der Defensive und schon froh, wenn sie Restbestände verteidigen können, die vor einigen Jahren noch unumstritten schienen.

Diese Differenz zwischen linken Forderungsebenen und den realen Entwicklungen scheint unüberbrückbar: Jetzt «ein globales Recht auf Migration» zu fordern, scheint vermessen. Sätze wie «Desertion und Exodus sind eine machtvolle Form des Klassenkampfes in der imperialen Postmoderne und zugleich gegen sie» (Hardt/Negri 2003) klingen angesichts des zigtausendfachen Sterbens im Mittelmeer und des Leidens in den Flüchtlingslagern wie intellektueller Zynismus. Und «No border, no nation» erscheint eher als Ausdruck einer oppositionellen Trotzhaltung, die sich mit ihrer Wirkungslosigkeit abgefunden hat und um Mehrheitsfähigkeit gar nicht mehr wirbt.

Der Abschottungsstimmungsmache nach außen entspricht eine Mobilmachung gegen Heterogenität im Inneren: „Die Zeit des Zelebrierens von ›Diversity‹ scheint erst einmal vorbei zu sein. Immer mehr ruft die Allgemeinheit nach Ausgrenzung, Homogenisierung und auch nach einfachen Antworten auf immer komplexer werdende soziale und politische Realitäten. Hingenommen wird ein gewaltvolles (nicht nur diskursives) Einschreiten gegenüber Minderheiten ebenso, wie das immer verschärftere Intervenieren der Regierungen in den privaten Lebensbereich. «Wir haben es mit einer schleichenden und schrittweisen Totalisierung europäischer Gesellschaften zu tun, die von einer drohenden und deswegen von Akteuren wie Sarkozy oder Seehofer leichtfertig imitierten rechten Hegemonie getragen wird», formulieren, fast ein wenig resigniert, María do Mar Castro Varela und Paul Mecheril (2016, S.12).
 

... andererseits: Neue Möglichkeiten für linke Politik

Doch gleichzeitig gibt es unerwartete Erfahrungen von Solidarität und Empathie, unterlaufen Bürger*innen in Stadt und Land die staatlich verordnete Un-Willkommenskultur. Das weckt Hoffnung und darum ist in den einschlägigen Texten überraschend viel von Potenzialen, Möglichkeiten und Chancen die Rede, die wachsen könnten, und davon, was passieren müsste, damit sie Wirklichkeit werden. Kaum eine Analyse, die in ihrem Fazit nicht mit diesem «müsste» endet.

Dabei stehen im Wesentlichen drei gesellschaftliche (Lern-)Prozesse im Fokus, an die angeknüpft werden könnte und müsste:

1. Die die Grenzregime in die Defensive zwingende, eigensinnige Kraft der Migration

Die in wissenschaftlichen und politischen Debatten um die «Autonomie der Migration» umrissene (s. etwa die Beiträge der Zeitschrift movements) und im Sommer 2015 empirisch erlebte konstitutive Kraft der Migration haben eine Akteursgruppe ins Blickfeld geschoben, die schon immer da war, aber kaum als aktiver Teil wahrgenommen wurde, sondern vor allem als Opfer und Objekt von Fürsorge: die Migrant*innen selbst. Sie sind es, die das Grenzregime in Bedrängnis bringen und neue Formen solidarischen Handelns entwickeln: «Escape comes first, not power. Power and control follow.» (Papadopolus/Tsianos 2008) 

2. Die unter dem Stichwort «Willkommensinitiativen» entstandenen gesellschaftlichen Bündnisse

Die vielen kleinen Kämpfe und Konflikte, die vielen neuen sozialen Zusammenhänge und Vernetzungen, die in der praktischen Arbeit entstanden sind, haben «einen transversalen Politikansatz vorangetrieben, bei dem Differenzen nicht essentialisiert, aber dennoch unterschiedliche Lebensrealitäten und -erfahrungen von Menschen anerkannt werden. Charakteristisch ist zudem das Verschmelzen mit anderen Kämpfen, wie etwa mit Arbeitskämpfen; mit jenen der gentrifizierungskritischen Bewegungen um das Recht auf Stadt, d.h. um Commons und freien Zugang zu sozialer und öffentlicher Infrastruktur; mit jenen der Geflüchteten um das Recht auf Bleiben, auf Bewegungsfreiheit und für soziale und politische Partizipation.» (Ataç u.a. 2015)

3. Eine neue Aktualität von Transformation

Die Verwerfungen im Zusammenhang mit Migration haben Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, vor denen wir lange und gerne die Augen verschlossen haben. Die globale Ungerechtigkeit, die zerstörerischen Wirkungen der Politik des Nordens, die sicht- und spürbare Widersprüchlichkeit von Grenzen und nationalstaatlicher Zugehörigkeit sind in unseren Alltag eingedrungen. Die Situation nicht als «Flüchtlingskrise», sondern als Teil der multiplen Krise des aktuellen Kapitalismus zu begreifen, eröffnet neue Perspektiven für linke Praxis: «Die neue Aktualität schon lange drängender sozialer Fragen wie etwa sozialer Wohnungsbau, medizinische Versorgung und Zugang zu Bildung und Arbeitsmarkt stellt eine Chance dar, einen post-nationalen und post-kolonialen Entwurf von BürgerInnenschaft und sozialer Grundsicherung zu entwickeln, der eine Alternative darstellt zur falschen Dichotomie zwischen einem europäischen Projekt von oben, das auf Zentralisierung und fortgesetzte Neoliberalisierung setzt, und der drohenden Re-Nationalisierung Europas.» (Hess/Kasparek 2015)
 

Anliegen des Dossiers: Bezüge herstellen, Perspektiven klären

Ausgangspunkt dieser Reihe ist diese Distanz zwischen (irgendwie) linken Forderungen und der gesellschaftlichen Stimmung, zwischen Hoffnung und Verzweiflung. Es will dazu beitragen, eine Vergewisserung über die Begründungszusammenhänge linker Politik in einer Zeit herzustellen, in der die bisherigen an Menschenrechten, humanistischen Idealen und Liberalismus ausgerichteten Grundsätze in die Krise geraten sind (sonst wären wir ja nicht in der Defensive!) .

Ganz bewusst wird damit die aktuell dominante Stimmung, die mal gelähmt, mal aufgeregt auf die Erfolge der Rechtspopulisten starrt und viel über Scham und andere linke Entfremdungen nachdenkt, nicht zum Ausgangspunkt der Analyse gemacht. Stattdessen ist es das Ziel, positive Anknüpfungspunkte für radikaldemokratische Strategien zu identifizieren, isolierte Prozesse in einen größeren Zusammenhang zu stellen, die Herausbildung von Akteursgruppen und deren Vernetzung zu beschreiben und Potenziale für weiterreichende Transformationen freizulegen. Politische Projekte «bekommen» eine Perspektive, der Lähmung wird entgegengewirkt.

Die Reihe versteht sich somit auch als Beitrag, Migrationspolitik als Transformationsprojekt zu begreifen. Die Diskussion um Transformationsprojekte (im deutschsprachigen Raum z.B. Klein 2013) weist bisher eine ökonomische Engführung auf. Ansätze zu Migration, (transnationalen) Bürgerrechten und Citizenship, Grenze und Nationalstaat u.ä. fehlen. Das führt zu einer Schwächung linker Politik insgesamt, denn auch hier spielt mehr und mehr die Musik, die die Verhältnisse zum Tanzen bringen kann.

Im Mittelpunkt der Publikationsreihe «Die Erweiterung des Terrains» stehen Gespräche mit wichtigen Impulsgeber*innen des deutschen und europäischen Migrationsdiskurses. Sie beziehen Stellung zu den Entwicklungen und Perspektiven in zentralen Handlungsfeldern migrationspolitischer Debatten: Solidarität und Konkurrenz, Recht auf Freizügigkeit, Citizenship und Zugehörigkeit, Grenzregime, Kämpfe der Migration, Rassismus u.a.. Was ist ihr Beitrag für eine Neuaufstellung? Wir werden sehen. Auf denn...

 
Günter Piening ist Soziologe und Journalist. Von 1994 bis 2003 war er Ausländerbeauftragter des Landes Sachsen-Anhalt, von 2003 bis 2012 Integrationsbeauftragter des Senats von Berlin. Seitdem ist er freiberuflich publizistisch und in der politischen Beratung tätig. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Migrationspolitik und Demokratie. 
 

Zur Interviewreihe
 

 


Anmerkungen

Ataç, Ilker et al. 2015, «Kämpfe der Migration als Un-/Sichtbare Politiken» in movements; 

Castro Varela, María do Mar; Mecheril, Paul. Hrsg. 2016, Die Dämonisierung der Anderen: Rassismuskritik der Gegenwart. Bielefeld: transcript.

Hardt, Michael; Negri, Antonio; Empire (dt.) 2003, Empire : die neue Weltordnung. Durchges. Studienausg. Frankfurt (Main) [u.a.]: Campus-Verl.

Hess, Sabine; Kasparek, Bernd 2015, «Das Scheitern des Grenzregimes»

Klein, Dieter 2013, «Das Morgen tanzt im Heute»: Transformation im Kapitalismus und über ihn hinaus. Hamburg: VSA-Verlag, Hamburg.

Papadopoulos, Dimitris; Stephenson, Niamh; Tsianos, Vassilis 2008. Escape routes: control and subversion in the twenty-first century. London: Pluto.