Geht es um Ideologietheorie, so gibt es in den Sozialwissenschaften gegenwärtig zwei zerstrittene Lager. Auf der einen Seite die dialektisch-kritischen Ansätze und auf der anderen Seite die so genannten postmodernen bzw. poststrukturalistischen.
Letztere waren mit dem Anspruch angetreten, die marxistische Ideologiekritik zu überwinden. Dagegen wurde wiederum von marxistischen Denkern Einspruch erhoben, die geltend machten, dass viele postmoderne bzw. poststrukturalistische Autoren die dialektisch-kritischen Ideologietheorien nur sehr verkürzt wahrnehmen.
Tatsache ist: Wer heute über Ideologiebildung nachdenkt, bekommt von den poststrukturalistischen Denkern ausgesprochen fruchtbare Anstöße. Von ihnen wurden zahlreiche blinde Flecken in der dialektisch-kritisch Tradition ausgeleuchtet. Ich nenne hier nur die Diskursanalyse Michel Foucaults, dessen Arbeiten großen Einfluss auf die historischen Wissenschaften ausgeübt haben und immer noch ausüben.
Kritik an der poststrukturalistischen Theorie kam sowohl von der etablierten Wissenschaft, wie auch von marxistischer Seite. Beide warfen den Ansätzen u. a. ihre Tendenz zum Relativismus vor. Die marxistische Seite hat deutlich gemacht, dass die "materiellen" Faktoren der Ideologieproduktion völlig ausgeblendet werden.
Es lohnt sich auf jeden Fall, vor diesem Hintergrund die dialektisch-kritische Ideologiekritik genauer anzusehen. Sie hatte in den westdeutschen Wissenschaften immer schon einen schweren Stand. Ganz anders als beispielsweise in Frankreich: Georges Duby, der populäre Mittelalterhistoriker bringt in seinem Aufsatz "Geschichte der Ideologien" gerade aus der Perspektive historischer Fragestellungen die Sache des wechselseitigen Bedingungsverhältnis von "ideellen" und "materiellen" Faktoren auf den Punkt. Der anregende und gut zu lesende Artikel ist ein guter Einführungstext in die Problematik. Auch deshalb, weil Duby auf Fragestellungen der Mentalitätsforschung und andere jüngere Diskussionsstränge eingeht.
Aber dann haben wir sie schon wieder, die klassischen Probleme für Einsteigerinnen und Einsteiger:
1. Wer in diese spannende Diskussion einsteigen will, befindet sich sofort in einem schwierigen und umkämpften Gelände. Auch innerhalb der politischen Linken verlaufen tiefe Gräben entlang verschiedner Schulen. An wen kann man sich halten? Wo fängt man an?
2. Die interessanten Primärtexte sind zerstreut oder unsystematisch präsentiert. So zieht sich beispielsweise die Ideologieproblematik bei Adorno durch sein ganzes Werk. Werner Seppmann meint, ähnliches gilt für Leo Kofler: Erst aus dem "Asketischen Eros", den "Perspektiven des revolutionären Humanismus" und der "Technologischen Rationalität im Spätkapitalismus" ergäbe sich ein stimmiges Gesamtbild seiner Theorie ideologischer Herrschaftsreproduktion. Weiter werden wichtige Beiträge zur Ideologietheorie allgemein nicht als solche zur Kenntnis genommen, so zum Beispiel Marcuses "Eindimensionaler Mensch." Insofern ist eine kurze Literaturliste völlig außerstande, einen brauchbaren Überblick zu bieten.
3. Bei den Sekundärtexten sind gute und verständliche Einführungen wieder einmal rar.
Die folgende erste Literaturliste legt ihren Schwerpunkt bei der dialektisch-kritischen Ideologietheorie. Sie verweist leider nur ansatzweise auf andere Traditionen. Vielleicht entwickeln sich weitere Listen mit entsprechend anderen Schwerpunkten (Postmoderne...), die von kundigeren Leuten verfasst werden.
Brauchbare Einführungen gibt es von Sebastian Herkommer und Terry Eagleton vor. Der Sammelband von Kurt Lenk wurde stark von der 68er-Bewegung rezipiert und ist bis heute ein Klassiker. Er liefert eine problemgeschichtliche Einleitung und versammelt Beiträge von den Anfängen der Religionskritik über die Marxsche Ideologiekritik, die positivistische Ideologienlehre, der deutschen Wissenssoziologie bis hin zu Ansätzen nicht-deutscher Autoren in der Zeit Ende der 60er Jahre.
Die Liste bleibt eine Anregung, sich mit der Ideologiekritik zu beschäftigen, um sich selbst einen Kopf zu machen. Um die Literaturliste weiterzuentwickeln, sind Kritik und Anregungen natürlich immer willkommen. Auch der Wunsch, bestimmte Titel heauszunehmen, kann erfüllt werden.
Gute Tipps gaben Christina Kaindl, Christoph Jünke, Bertold Scharf und Werner Seppmann.
rh
Nachtrag:
Nico Koppo hat noch auf folgenden Titel hingewiesen (wird in die nächste Fassung übernommen):
Klaus-Gerd Giesen (Hg.): Ideologien in der Weltpolitik, Wiesbaden 2004
Giesen zeichnet eine ähnliche theoretische Lagerspaltung und schreibt dazu eine lesenswerte neunseitige Einleitung. Für Zeithistoriker/innen ist aber insbesondere der Beitrag von Plehwe/Walpen: "Buena Vista Neoliberal" interessant, in der sie die bewusste, politikstrategisch detailliert durchgeplante und zielgruppengerecht aufgearbeitete Implementierung neoliberalen Gedankengutes empirisch analysieren. Bei Interesse gibt es eine ausführlichere Rezension (mit Erwähnung aller Artikel) von Nico hier:
http://www.rosalux.de/cms/fileadmin/rls_uploads/pdfs/Utopie_kreativ/176/176.pdf