Der zeitliche Endpunkt ist das Kalenderjahr selbst, so dass Texte, die nach 1968 erschienen sind, nicht aufgenommen wurden. Im Buch finden sich (teilweise gekürzte) Texte von Ho Chi Minh, Dutschke, Fanon, Guevara, Marcuse, Meinhof, Negri, Sartre, Sik und vielen anderen. 13 stammen von Organisationen und gerade mal zwei von Frauen: Ulrike Meinhof ist mit einem beitrag von 1962 vertreten und Helke Sanders´ berühmte Tomatenwurfrede vom September 1968.
In einer 15-seitigen Einleitung umreisst die Herausgeberin ihr Verständnis von „1968“: Dieses sei ein globales Phänomen gewesen, das drei Ausgangsbedingungen hatte: Wirtschaftswachstum, Bildungsexpansion, Dekolonisierung. Als Ereignis und als Bewegung könne es als „plurale Einheit“ gefasst werden, die weltweit über Gemeinsamkeiten verfügt habe: antiautoritäre Mentalität, Gegenkultur, Vielfalt der Protestformen, vor allem ziviler Ungehorsam; Bedeutung des Vietnamkrieges beziehungsweise der Gegnerschaft zu ihm, als global verbindendes Element. Interessant und dann vielleicht doch neu ist der Hinweis, die Neue Linke sei „1968“ vorausgegangen, und nicht ihre Folge, wie sonst immer angenommen wird: Seit Mitte der 1950er Jahren gab es in Frankreich und Großbritannien kleine Zirkel, die sich vom Partei- und stalinistischen Marxismus abwandten und mit ihrer Vorarbeit wichtig für die Sozialrevolte 1967 bis 1969 werden sollten. Neu war an „1968“ und teilweise auch schon bei den intellektuellen Vorläufern, dass nun politische Handeln nicht mehr zwangsläufig an die Parteiform gebunden war, sondern auch in anderen Formen geschah, in den 1970er Jahren in Westdeutschland dann in Form der Bürgerinitiativen und sozialen Bewegungen.
Zum Schluss ihrer Einleitung referiert Ebbinghaus noch verschiedene sozialwissenschaftliche Deutungsangebote zu „1968“ (Bewegungsforschung, Modernisierungstheorie, Generationenansatz, und viertens Immanuel Wallerstein, der „1968“ als Revolution im Weltmaßstab ansieht) und ordnet die von ihr ausgesuchten Texte noch kurz und kursorisch in ihren zeitlichen und inhaltlichen Entstehungszusammenhang ein.
Nicht mit Texten vertreten – und dies hängt wohl mit der erwähnten Setzung von „1968“ als vorrangig antiautoritäres Ereignis zusammen - ist der traditionelle Flügel der 68er Bewegung, den es ja auch gab. Dieser, eher von linkssozialdemokratischen oder parteikommunistischen Ansätzen geprägte Teil kommt schlicht nicht vor. Problematisch erscheint auch die große Bedeutung, die der Gegenkultur zugeschrieben wird. Sie war sicher wichtig, aber die Debatte um den Ausverkauf der Rebellion begann bereits in jenen Jahren selbst oder war etwa nicht der größte Sympathisant der Jugendrevolte die Medien- und Kulturindustrie?
Der Band enthält als Hilfsmittel ein Verzeichnis der Quellen, aus denen die dokumentierten Texte entnommen wurden, die Biographien ihrer AutorInnen und eine 24-seitige Übersicht über antikoloniale Bewegungen, StudentInnenunruhen und Arbeiterkämpfe in den 1960er Jahren. Als Ergänzung kann unter www.stiftung-sozialgeschichte.de ein ausführliches Literaturverzeichnis heruntergeladen werden, das aus Platzgründen nicht mehr in das Buch aufgenommen werden konnte.
Das Buch ist ein in erster Linie ein sehr preiswerter Überblick mit vielen historischen Dokumenten. Ob einem die dort versammelten Texte heute politisch noch etwas sagen, hängt sicher von den Interessen und dem Standpunkt der LeserInnen ab.
Ein zweiter Band zu den Folgen von „1968“ ist in Vorbereitung.
Angelika Ebbinghaus (Hrsg.): Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, 224 S., 12,90 EUR, Promedia Verlag, Wien
Nachricht | Ebbinghaus (Hrsg.): Die 68er. Schlüsseltexte der globalen Revolte, Wien 2008
...fast vier Dutzend Texte aus dem Jahr 1968...