Pressemeldung | Wie wir miteinander leben wollen

»Sozialismus als Tagesaufgabe« – Abend mit Gregor Gysi, Oskar Lafontaine und Daniela Dahn (Neues Deutschland, 7.11.2005)

Da strömen sie aus der Berliner Auferstehungskirche hinaus in die Nacht. Zweieinhalb Stunden haben diese Leute dicht gedrängt gesessen, immer wieder geklatscht und gelacht, und die meisten werden jetzt nicht gleich schlafen gehen. Die Debatte – veranstaltet von der Rosa-Luxemburg-Stiftung – hat wach gemacht; nun möchte man weiter miteinander reden, auch wenn man weiß, dass man nichts klären kann. Nicht mal die Frage, was Sozialismus eigentlich ist.

Da stelle man sich vor – wie Oskar Lafontaine anregte –, jeder aus dem neuen Vorstand der SPD würde einen kurzen Aufsatz zu diesem Thema schreiben (immerhin ist der Begriff ja noch im SPD-Parteiprogramm). Da kannst du uns von der PDS gleich mit hinzunehmen, so Gregor Gysi. Es ist doch so: Heute findet jeder, der mit dem Gedanken des Sozialismus noch irgendwie liebäugelt, seine eigene Definition. Für Gregor Gysi ist es vor allem eine Befreiungsideologie, die er nicht lediglich auf Marx und Engels, sondern auf viel ältere Wurzeln zurückführt und die jetzt unter dem Stigma steht, dass der erste reale Versuch, »den ich Staatsozialismus nenne«, gescheitert ist. »An dieser Tatsache führt nichts vorbei. Eine falsche Praxis bedeutet jedoch noch nicht, dass das Ziel falsch ist.« Und mehrfach betont: »Ich stelle soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit nie wieder der Freiheit gegenüber.« Zwischenbemerkung von Daniela Dahn: »Was nicht demokratisch ist, ist nicht sozialistisch.«

Für Oskar Lafontaine ist Sozialismus eine »Philosophie des gesellschaftlichen Zusammenlebens«. Eine »Idee der Verhinderung von Macht über andere«. – Und das proklamiert er vor Zuhörern, von denen viele Jahrzehnte lang in der Überzeugung lebten, die Grundfrage des Sozialismus sei die der Macht.

Aber um Macht geht es ja doch immer irgendwie. Heute, da dieser Text in der Zeitung steht, ist der Jahrestag der Oktoberrevolution. Von diesem Zeichen an die Herrschenden, dass Verhältnisse der Unterdrückung auch gewaltsam umgestoßen werden können, wenn soziale Widersprüche sich unerträglich zuspitzen, war bei der Veranstaltung nicht die Rede.

Enteignung des Kapitals als Voraussetzung sozialistischer Verhältnisse? So habe ich es mal in der Schule gelernt. Aber es hat sich gezeigt, dass Staatseigentum diktatorische Strukturen fördert, bemerkte Gregor Gysi. Für ihn geht es weniger um die Frage, wer Eigentümer ist, sondern wie mit Eigentum umgegangen wird, wie man Bedingungen schafft, dass die vielfältigen gesellschaftlichen Interessen Berücksichtigung finden. Einige Bereiche gäbe es – wie Gesundheitswesen, Verkehr, Wohnung, Bildung und Kultur –, die nicht marktwirtschaftlich organisiert werden sollten. Im übrigen gehe es um demokratische Kontrolle. Was auch den Bankensektor betrifft, der als »gigantische Umverteilungsmaschine funktioniert, wenn die Schwächsten der Gesellschaft über Dispokredite brutal ausgebeutet werden.« Wirtschaftsdemokratie, aber wie kommt man dahin, fragte Daniela Dahn, die den Abend auf kluge Weise moderierte. Schwierig, schwierig.

Rückkehr des Primats der Politik über die Wirtschaft, so Oskar Lafontaine. Er hat ja Recht, dass der Schwache auf Regeln angewiesen ist, die ihn gegenüber dem Starken schützen. Und Gregor Gysi hat auch Recht, dass nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus Kapitalverwertungsinteressen umso rücksichtsloser durchgesetzt werden. Vormarsch des Neoliberalismus – Frage aus dem Publikum: Wieso machen die Leute das mit? Man kann sich ja tatsächlich an den Kopf greifen, wieso eine Partei so viele Stimmen bekam, die noch mehr soziale Kürzungen in Aussicht stellt. Wie man unsereinem ein X für ein U vormachen will, und viele merken es gar nicht. Glauben einem Begriff wie »Bündnis für Arbeit«, wo es doch in Wirklichkeit darum geht, Löhne zu drücken. »Eine gewaltige Irreführung der Gesellschaft«, so Oskar Lafontaine. Schon »Arbeitsmarkt« sei für ihn ein grässliches Wort. Früher sprach man noch von Verantwortung, heute nennt man Eigenverantwortung, wenn man die Schwachen alleine lässt. Oder: »Senkung der Lohnnebenkosten, das heißt doch in Wirklichkeit, dass es weniger Geld für Arbeitslose, Kranke oder Pflegebedürftige geben soll. Täglich werden wir über die Sprache vergewaltigt. Sprache hat mehr Einfluss auf die Politik als Merkel und Schröder.«

Medien-Macht. Aber immerhin, dachte ich mir beim Zuhören, gibt es diese Zeitung, die nicht privatkapitalistisch kontrolliert ist. Mühe geben wir uns, mit unserem dünnen Blatt in der Konkurrenz gegen die ziegelsteinschweren Überregionalen zu bestehen, behaupten guten Willen und geistige Freiheit ... Doch inwieweit man uns in der Öffentlichkeit ernst nimmt, hängt von unserer Verbreitung ab. Für eine höhere Auflage müsste man investieren, doch investieren könnte man erst, wenn man eine große Auflage hat.

»Wenn die Sozialhilfeempfängerin auch noch glaubt, dass man bei ihr abbauen muss, hat man als Linker keine Chance«, so Gregor Gysi. Und: »Wenn du außerparlamentarisch keine Bewegung hast, kannst du im Bundestag erzählen, was du willst.« Denn: Aus demokratischer Sicht lassen sich gesellschaftliche Veränderungen nur in dem Maße durchsetzen, wie sie von einer Mehrheit in der Gesellschaft getragen werden. »Bewegung in der Gesellschaft kann man nicht beschließen.« Der intellektuelle Kampf um einen anderen Zeitgeist ist vonnöten. Oskar Lafontaine: »Wir müssen eine kulturelle Veränderung schaffen.«

Zwei starke Persönlichkeiten, begnadete Redner – und man sieht, »die Chemie« stimmt, sie ergänzen einander. Immer wieder werden sie von Beifall unterbrochen. Er wäre auch gekommen, wenn das Thema des Abends der Grippevirus des Maikäfers gewesen wäre, sagt einer aus dem Publikum. Daniela Dahn, die mit einer Lesung den Saal auch allein hätte füllen können, hat diesmal »nur« die Aufgabe, den beiden die Bälle zuzuspielen, mit denen sie jonglieren können.

Als die Diskussion dann für alle freigegeben wird, fallen auch scharfe Worte. Mitglieder der Berliner WASG haben darauf gewartet, hier auszusprechen, was viele schmerzt und empört: die Privatisierung des Wassers in Berlin, die Aufkündigung der Lehrmittelfreiheit, dass die Busfahrer bei geringerem Gehalt länger arbeiten sollen – und das alles unter Mitregierung der PDS. Die Mitarbeiter der Charité seien von Senator Flierl vor die Wahl gestellt worden: entweder Absenkungstarifvertrag oder Streichung von 1500 Arbeitsplätzen. Wie können wir uns dagegen wehren, wurde gefragt.

Ja, was soll man tun, wenn eine Stadt völlig pleite ist? Sollen sich die Linken in einer solchen Lage lieber nicht an der Regierung beteiligen (Lafontaine)? Aber die Linken werden ja meist dann gewählt, wenn es einem Land schlecht geht, weil man von ihnen erwartet, dass sie bei allgemeiner Armut wenigstens für etwas Gerechtigkeit sorgen. »Wenn du heute in einer Landesregierung bist, gelten die Hartz IV-Gesetze auch für dich« (Gysi).

Ein Dilemma, wirklich. Sozialisten als Ärzte am Krankenbett des Kapitalismus? Aber wenn es ihnen ernsthaft um die Menschen geht, um das Wohlergehen des Einzelnen, dann müssen sie sich in die Realpolitik einbringen, dürfen nicht warten, bis sich ihre Visionen erfüllen.
»Wenn wir über Grundwerte des Sozialismus reden, dann über die Frage, wie wir eigentlich miteinander leben wollen« – eine schlich-te Feststellung von Oskar Lafontaine. Sie scheint mir ein Kernsatz des Abends zu sein. Was ist das Lebenswerte für mich, wie sehe ich mein Verhältnis zu den anderen? Ich meine, dass sich mit solchem Nachdenken schon etwas verändert: Dass ich das Bestehende nicht als unverrückbar gegeben ansehe, nach dem Motto »Das ist nun mal heute so.«

In Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern stehen die Erwachsenen da und tun so, als bestaunten sie prächtige Gewänder. Sie sehen davon nichts, aber haben Angst, das laut zu sagen. Heißt es doch, die Kleider blieben jenen unsichtbar, die für ihren Beruf nicht taugten. Ein Zwang zur Lüge liegt über ihnen. Und über dem Kaiser ebenso. Nackt posiert er vor seinem Volk. Aber er hat ja nichts an, ruft plötzlich ein Kind. Und es erhebt sich ein Flüstern. – Er hat ja gar nichts an, ruft endlich das ganze Volk.

»Wirtschaft ist nicht göttlich«, so Gregor Gysi. »Wirtschaft wird von Menschen gemacht. Und da ist es nicht absurd zu fragen: Warum nicht auch für Menschen?«

4. November: Ich schreibe, und es ist schon Mitternacht. Heute vor 16 Jahren habe ich noch an eine Erneuerung der DDR geglaubt. Wie viel Ernüchterung, Trauer und Glück hat es seitdem gegeben. Nichts war voraussehbar gewesen, und auch heute ist nichts voraussehbar. An diesem Abend wurde immer wieder eine starke Linke beschworen, die ja nicht nur aus PDS und WASG bestehen müsste, sondern als dritte, noch viel größere Gruppe die vielen Leute hat, die schon in Resignation versunken sind und nun vage Hoffnung schöpfen. Wenigstens darauf, dass sie nicht ganz allein und machtlos sind, dass sich etwas in dieser Gesellschaft bewegt.