BERLIN taz Mit Erfolg entziehen sich Entwicklungs- und Schwellenländer gegenwärtig dem beherrschenden Einfluss des Nordens, besonders der USA. Diese Ansicht teilten viele der rund 70 Wissenschaftler beim Kongress "Kapitalismus Reloaded" ("Der neue Kapitalismus") am Wochenende in Berlin.
Einer von ihnen: der südafrikanische Wirtschaftswissenschaftler Yash Tandon: "Es gibt ein neues Bewusstsein in den südlichen Ländern Afrikas." Die 700 Teilnehmer des Kongresses hörten das gerne. Eingeladen hatten in seltener Eintracht linksliberale bis linke Organisationen. Die Grünen-nahe Heinrich-Böll-Stiftung gehörte ebenso zum Veranstalterkreis wie die gewerkschaftliche Hans-Böckler-Stiftung, die Rosa-Luxemburg-Stiftung der Linkspartei, die Globalisierungskritiker von Attac und die sozialistisch Zeitung Analyse und Kritik.
Der britische Politikwissenschaftler Alex Callinicos sah eine "gewaltige Transformation der Weltwirtschaftsstrukturen durch den Aufstieg Chinas und Indiens". Giovanni Arrighi, Soziologe an der Hopkins University in den USA, erinnerte an die Politik von Ronald Reagan und Margaret Thatcher. Diese setzte Verschuldung als Machtinstrument ein. So sollte der Süden als wirtschaftlicher Konkurrenten des Nordens geschwächt werden. "Mit dem wirtschaftlichen Aufstiegs Chinas und Indiens ist aber nun eine neue Situation entstanden", so Arrighi. Erstmals "bildet sich eine südliche Achse aus", die stark genug sei, sich der Repression des Nordens entgegenzustellen.
Gebannt hörten die Zuhörer auch dem afrikanischen Wirtschaftswissenschaftler Tandon zu. Er hatte an der gescheiterten WTO-Konferenz in Cantún teilgenommen und berichtete nun Details. Als sich die afrikanischen Politiker seperat beraten wollten "wurden ihnen einfach das Licht und die Mikrofone ausgeschaltet". Yash Tandon appellierte an das europäische Publikum. "Wir sind traurig, dass Europa seit dem 11. September mit der gleichen Stimme wie die USA spricht." Dennoch hoffe man auf Europa, wenn es darum geht, den amerikanischen Einfluss zu begrenzen.
Star des Kongresses war Edgardo Lander, ein Berater von Venezuelas Präsident Hugo Chavez. Er beschrieb den sozialen Wandel in Venezuela seit dem Regierungsantritt von Chavez am Beispiel des Alphabetisierungs- und Gesundheitsprogramms. Aber auch die übrigen lateinamerikanischen Staaten seien aufgewacht. Fast alle neoliberalen Regierungen wurden abgewählt. Es bilde sich eine Zivilgesellschaft heraus, die verstärkt Kritik an der Privatisierung öffentlicher Güter übe. "Die sozialen Bewegungen", so Lander, "haben einen nie zuvor da gewesenen Organisationsgrad erreicht." So konnte vorerst verhindert werden, dass die USA auf dem amerikanischen Kontinent eine von ihnen dominierte Freihandelszone schaffen.
So groß auf dem Kongress die Freude über diese Erfolge war, so groß war allerdings auch die Sorge über die neue US-amerikanische Außenpolitik. Mit dem Programm eines "New American Century" versuche die Bush-Administration, auch im neuen Jahrhundert ihre Hegemonie zu sichern.
Der britische Professor Peter Gowan erinnerte daran, dass die Macht der USA sich hauptsächlich auf der währungspolitischen Dominanz des Dollars stütze. Der Irakkrieg habe zwar vorerst verhindert, dass der Ölhandel großflächig auf Euro umgestellt wird. Dennoch könne es dazu noch kommen. "Und dann würde sich das Zentrum der Finanzströme langfristig nach Asien oder Europa verlagern."
taz Nr. 7819 vom 14.11.2005, Seite 8, 120 Zeilen (TAZ-Bericht), HAUKE RITZ