Rückspiel nach 80 Jahren: 1925 fuhr eine Abordnung des russischen Schachvereins Serpuchow nach Berlin und trug einen Freundschaftskampf gegen eine örtliche Auswahl des Deutschen Arbeiter-Schachbundes aus. 2005 nun endlich der Gegenbesuch: Auf Initiative der Rosa-Luxemburg-Stiftung reisen fünf Ehemalige der deutschen Arbeiterschachbewegung vom 12. bis zum 15. Dezember zu einem Wettkampf nach Serpuchow, heute eine 100000-Einwohner-Trabantenstadt im Großraum Moskau.
Die Delegation wird begleitet von Arndt Willeke (45) aus dem niedersächsischen Städtchen Seesen, der nach dem Tod seines Vater Gerhard dessen Standardwerk »Geschichte des deutschen Arbeiterschachs« herausgegeben hat. Mit ARNDT WILLEKE sprach RENÉ GRALLA.
ND: Ihr Vater Gerhard Willeke ist Autor der bisher einzigen Monografie zum deutschen Arbeiterschach. Sie fliegen nun nach Russland, um das Vermächtnis Ihres Vaters zu vertreten. Welche persönlichen Gefühle verbinden Sie mit dieser Reise?
Willeke: Es ist schade, dass mein Vater das nicht mehr erleben konnte. Dass sich nämlich in diesen Tagen die Chance ergibt, in Russland ein Arbeiterschach-Turnier auszurichten – mehr als 70 Jahre, nachdem das Arbeiterschach aus Deutschland praktisch verschwunden ist. Das ist eine Wirkung, die nicht jedes Buch erreicht.
Was hatte Ihren Vater dazu bewogen, sich mit dem Spezialthema Arbeiterschach zu beschäftigen?
1999 schrieb mein Vater eine historische Arbeit über den Niedersächsischen Schachverband. Als Nebeneffekt der entsprechenden Recherchen stellte er fest, dass seine eigenen Wurzeln als Spieler im Arbeiterschach lagen; das hatte er vorher nicht gewusst. Mein Vater war gelernter Bäcker, später machte er das Abitur auf dem Abendgymnasium nach und wurde Berufsschullehrer. 1946 trat er in den Schachklub Hannover-Linden ein. Das war ursprünglich ein Arbeiterschach-Verein, der 1933 im Zuge der Gleichschaltung durch die Nazis aufgelöst worden war.
Wie lange hat Ihr Vater für seine Studie geforscht?
Als er 2001 im Alter von 72 Jahren starb, haben wir auf seinem Computer die Dateien des unvollendeten Manuskriptes gefunden. Das war das Ergebnis einer oft schwierigen Quellensuche von zwei Jahren. Deswegen haben meine Mutter und ich uns entschlossen, das Buch zusammen mit dem Verleger Godehard Murkisch herauszugeben.
Zu ihren besten Zeiten zählte die deutsche Arbeiterschachbewegung mehr Mitglieder als der damalige Deutsche Schachbund.
Da gehörten dem Deutschen Arbeiter-Schachbund rund 10000 Aktive an. Hinzu kamen ungefähr zweihalbtausend Mitglieder des kommunistischen Arbeiterschachbundes. Der erste Arbeiterschach-Verein hieß »Vorwärts« und formierte sich zwischen 1902 und 1903 in Brandenburg an der Havel.
Wie sah das Verhältnis zwischen der Arbeiterschachbewegung und den so genannten bürgerlichen Vereinen aus?
Das deutsche Arbeiterschach sprach sich in seinen Statuten ganz klar gegen eine Zusammenarbeit aus. Deswegen sind nicht wenige begabte Spieler, denen die Entwicklungsmöglichkeiten im Arbeiterschach fehlten, zu bürgerlichen Vereinen übergetreten.
Welches Ziel hat die Arbeiterschachbewegung verfolgt – insbesondere auch mit der rigiden Abgrenzungspolitik zum bürgerlichen Lager?
In einen Arbeiterschachklub durfte grundsätzlich nur derjenige eintreten, der entweder gewerkschaftlich organisiert oder Mitglied der SPD beziehungsweise einer anderen linken Partei nach 1919 war. Der politische Auftrag war also ganz klar.
Gab es auch die üblichen unterschiedlichen Richtungen?
Ja. Die linke Position hat Robert Oehlschläger, Gründervater des Deutschen Arbeiter-Schachbundes 1912, so formuliert: Schachspiel sei Klassenkampf; es gehe darum, die kognitiven Fähigkeiten zu stärken und taktisches Geschick zu entwickeln, um das Proletariat fit zu machen für den Klassenkampf. Die Gegenströmung vertrat Max Wingefeld aus München. Der wollte sich auf den Bildungsanspruch beschränken. Wingefeld betonte den emanzipatorischen Effekt des Arbeiterschachs, um den bürgerlichen Vereinen zu demonstrieren, dass auch Arbeiter gut Schach spielen könnten.
Die Nationalsozialisten haben die Bewegung nach Hitlers Machtergreifung zerschlagen.
Die Arbeiterschachvereine wurden 1933 verboten. Viele Spieler traten anschließend in den Großdeutschen Schachbund ein. Davon ausgeschlossen waren Juden und Kommunisten.
Sind jüdische und kommunistische Spieler auch ins KZ verschleppt worden?
Ja. Ich nenne beispielhaft Felix Meisl, ein Problemkomponist aus Wien, der 1938 deportiert und ermordet wurde.
Nach der Befreiung 1945 sind – wenn wir hier mal auf den Westteil Deutschlands abstellen – keine Arbeiterschachklubs mehr gegründet worden. Warum?
Das ist vermutlich ein Effekt der Zwangsvereinnahmung nach 1933. Beide Seiten, die Arbeiter und die Bürgerlichen, haben wohl gemerkt, dass sie letztlich alle Schach spielen wollten, das war ja ihr eigentliches Anliegen.
Und wie sah es in der DDR aus? War da jeder Schachklub de facto ohnehin ein Verein der Werktätigen.
Im Prinzip: Ja.
Und nun, 2005: Veteranen des deutschen Arbeiterschachs treten gegen eine Mannschaft aus Serpuchow bei Moskau an...
Wir haben, auch wenn das nicht so einfach gewesen ist, tatsächlich insgesamt fünf Spieler finden können, die noch eine Verbindung zur Tradition des Arbeiterschachs haben. Die Mitglieder des Teams sind zwischen sechzig und siebzig Jahre alt.
Könnte der Wettkampf in Serpuchow womöglich die Initialzündung geben für eine Renaissance des Arbeiterschachs in Deutschland?
Lebendig werden in der Form, wie es mal war, wird es wohl nie mehr. Vielleicht führt das Turnier in Serpuchow aber dazu, dass ein wichtiger Teil der deutschen Schachgeschichte endlich gewürdigt wird. Denn derzeit ist das Arbeiterschach ja öffentlich leider so gut wie vergessen.