So viele rote Flaggen sieht man in Berlin nur einmal im Jahr. Kurz vor dem Start der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration staut sich das Fahnenmeer zwischen den Bauten am Frankfurter Tor. Bei klirrender Kälte und strahlend blauem Himmel nimmt der Zug Stellung auf, drumherum drapieren sich die Polizisten. An den U-Bahnausgängen kontrollieren sie vor allem Jugendliche in Antifa-Kluft: Keine Stahlkappenschuhe, keine langen Transparente, keine Glasflaschen lauten die Auflagen. Hunderte Beamte sind im Einsatz, ein Hubschrauer kreist und sichtet die Lage.
Angesichts des martialischen Polizeiaufgebots könnte man meinen, die Revolution stünde vor der Tür. Sie sei großartig, meinte Rosa Luxemburg einst. Und alles andere sei »Quark«. »Revolution steht derzeit nicht auf der Agenda«, winkt Andrea ab. Für die knapp dreißigjährige Buchhändlerin, die sich selbst zu den autonomen Antifas zählt, ist Luxemburg aber eine Art Vorbild. Ihr zu Ehren nimmt sie an der Demonstration teil. »Obwohl mir hier auch manchmal ein wenig graust«, sagt sie und zeigt auf ein Transparent von dem neben Marx und Lenin auch Stalin und Mao herunterblicken. Mit den meisten »sozialistischen Vereinen« könne sie nichts anfangen. »Klassenkampf«, »Hauptfeind im eigenen Land« und »Freiheit der Andersdenkenden« – gern verwandte Zitate der ermordeten Sozialistenführer – sind für sie »zu oft heruntergeleierte Wortstanzen«, sagt Andrea. »Die helfen nur bedingt, die heutigen komplizierten gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu durchschauen.«
In der Gudrunstraße in Lichtenberg herrscht unterdessen schon seit neun Uhr früh reges Treiben. Kurz vor der Gedenkstätte der Sozialisten haben linke Initiativen aller Coleur neben Bratwurst- und Glühweinständen ihre Tische aufgebaut – Cuba Si, die Initiative gegen den Abriss des Palastes der Republik auf der einen, ein beeindruckend langer Büchertisch, Stände mit Aufnähern, Unterschriftenlisten, Handschuhen und Mützen auf der anderen Seite.
Auch die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat hier einen Stand. Weltweit hätten die Theorien Luxemburgs für die Linke noch immer viel Relevanz, meint Evelin Wittich, geschäftsführendes Vorstandsmitglied. »Besonders Fragen nach Demokratie, Militarismus und Krieg beschäftigen.« Auf der ersten Rosa-Luxemburg-Konferenz in Moskau 2004 hätten die russischen Genossen beispielsweise angeregt darüber diskutiert, wo die demokratischen Ansätze der Bolschewiki, die damals die Revolution für das Volk entschieden, verloren gingen, so Wittich. Sie freut sich über die kritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, weil sie auch einen Weg in eine bessere Zukunft weise.
Vor dem Eingang zur Gedenkstätte ereignet sich eine Premiere: Mitglieder von Linkspartei und WASG reihen sich auf, um zum ersten Mal gemeinsam die Kränze für »Karl und Rosa« niederzulegen.
Auch Oskar Lafontaine ist dort. Vor der Wende habe er einmal von der SED eine Einladung zur Veranstaltung bekommen, erzählt er. Damals lehnte er ab. Heute aber sei er gerne hier. Luxemburg und Liebknecht seien wichtige Personen der Arbeiterklasse gewesen, sagt er, »der eine stand für den Widerstand gegen Krieg, die andere für soziale Gerechtigkeit und Freiheit«.
Ernst Wanitschek, Jaroslav Ondrácek und Günter Möder warten auf eine Delegation tschechischer Genossen, die mit dem Demozug von der Frankfurter Allee demnächst an der Gedenkstätte eintreffen werden. Seit zehn Jahren schon kommen sie her, berichtet Ondrácek. Diesmal sind sie fast 50 Leute, 15 davon Jugendliche. Er selbst ist Vorsitzender des Kreisausschusses der Kommunistischen Partei in Trutnov, aber nicht alle von ihnen sind in der Partei. Er erzählt vom jährlichen Treffen deutscher und tschechischer Kommunisten in Mala Upa im Riesengebirge, das es schon seit 1922 gibt. Auch heute noch reist allein aus Berlin jedes Jahr ein ganzer Bus an. Einmal kam sogar Ernst Thälmann, erzählt Ondrácek begeistert. Die Fahne, die er mitbrachte, bewahren die Genossen bis heute auf. Sie haben sie auch diesmal bei der Demonstration dabei.
Während sich die drei Herren die kalten Hände reiben, nähert sich die Demonstration der Gedenkstätte. Musik dröhnt aus Lautsprecherwagen, schwächer oder lauter erklingen hier und da Parolen. Die meisten Demonstranten zeigen sich wenig kämpferisch – sie unterhalten sich oder laufen schweigend. Von einem Lkw herunter spielt die von vielen Berliner Montagsdemos bekannte und berüchtige Band der Marxistisch-Leninistischen Partei auf, begleitet vom meist einen Halbton falsch liegenden Gesang. »Irgendwie sehe ich mich schon als einen Teil der Arbeiterklasse«, sagt der 21-jährige Jens, der hier mitläuft. Er ist arbeitslos, seitdem er vor einem Jahr eine Heizungsbauerlehre abgeschlossen hat. Wie es genau aussehen könnte, wisse er nicht, aber »eigentlich müssten die Leute doch wieder klassenkämpferisch werden«. Denn die da oben täten doch immer mehr, was sie wollen. »Der Hauptfeind ist das Kapital«, fügt Jens dann noch hinzu, »und das ist international.« Es klingt ein wenig wie auswendig gelernt.
Am Mahnmal fallen mehr und mehr Nelken auf Gedenktafeln und auf den Schnee, der weiß in der Sonne glänzt. Und wie in jedem Jahr versinkt das Rondell rund um den Obelisken mit der Aufschrift »Die Toten mahnen uns« in einem Meer aus Kränzen und roten Nelken.