Ein gesellschaftspolitisches Forum in Frankfurt (Main) zog am Sonntag Bilanz der ersten Regierungsmonate der großen Koalition und versuchte sich an linken Perspektiven.
»Die große Koalition fährt mit Vollgas in die Sackgasse, in der sich auch Rot-Grün bewegte« – diesen Worten von Horst Schmitthenner (Initiative für Politikwechsel) konnten sich wohl die meisten der rund 200 Zuhörer anschließen. Sie alle waren gestern zum gesellschaftspolitischen Forum mit dem Titel »100 Tage Schwarz-Rot. Was sind die Perspektiven?« gekommen, zu dem neben der Initiative auch die Friedens- und Zukunftswerkstatt, die Redaktion der Zeitschrift »Sozialismus«, die Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie der kapitalismuskritische Verein WISSENTransfer in das Gewerkschaftshaus Frankfurt eingeladen hatten.
»Vor 30 Jahren hatten die Volksparteien CDU und SPD zusammen noch rund 90 Prozent der Wahlberechtigten hinter sich, heute sind es nicht einmal mehr 60 Prozent«, so Moderatorin Ursula Schumm-Garling. Dem stimmte Schmitthenner in seiner Einleitung zu, als er feststellte, bei der Bundestagswahl habe weder die Fortsetzung der Agenda 2010 eine Mehrheit erzielt noch neoliberale Politik, wie sie eine CDU/FDP-Koalition vertreten hätte. Unerwartetes wie etwa die Forderungen nach Mindestlöhnen, steigenden öffentlichen Investitionen und breiterer Teilhabe am Erfolg waren in den ersten 100 Regierungstagen ebenso zu hören wie weitere Kürzungen im Sozialen, Fortsetzung von Privatisierungen und mögliche neue Kriegseinsätze der Bundeswehr. Haben sich also die Chancen für positive gesellschaftliche Veränderungen seit September verbessert oder eher verschlechtert?
Arno Klönne, emeritierter Professor für Soziologie, wunderte sich: Zu einer »Entscheidungsschlacht« sei die Wahl im Vorfeld aufgebaut worden, jetzt aber sei kaum noch zu unterscheiden zwischen SPD und CDU. Angela Merkel habe durch die Wahl wohl gelernt, dass die CDU »sich nicht allzu westerwellisch« geben dürfe, während vor allem Sozialdemokraten wie Müntefering oder Steinbrück weitere soziale Einschnitte verkündeten – etwa die Verschärfung von Hartz IV, angekündigte Steuerentlastungen für die Kapitalseite sowie weitere Privatisierungen. Klönne sieht folglich lediglich »Verschiebungen in einem Parteienkartell«, das von der CDU bis zu den Grünen reicht – und in das die Linkspartei über ihre Regierungsbeteiligungen zumindest partiell »eingeflochten« sei. Große Linie der Regierungspolitik sei die schrittweise Abschaffung des solidarischen und immer noch weitgehend paritätisch finanzierten Sozialsystems.
Der Marburger Universitätsprofessor Georg Fülberth wiederum bejahte die Frage, ob die politische Rechte in der großen Koalition sozialdemokratisiert werde. Letztlich sei die Rede von der Sozialdemokratisierung der CDU aber »nur ein PR-Trick der SPD, die sich als Einflüsterer der CDU darstellen will«. Joachim Bischoff von der Redaktion der Zeitschrift »Sozialismus« widersprach den Thesen Klönnes und Fülberths vom großen Kartell der Parteien, dessen innere Widersprüche nicht relevant seien. Die Offenheit, sich mit der Einführung eines Mindestlohns zu beschäftigen, sei nicht nur PR und das Aufschieben weiterer Rentenkürzungen durch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit eine reale Verbesserung. »Wir tun gut daran, die inneren Widersprüche im Lager der Neoliberalen zur Kenntnis zu nehmen«, so Bischoff. Sich auf sie einzulassen sei Voraussetzung dafür, künftig andere gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zu bekommen.
Wie diese erreicht werden können, skizzierte Arno Klönne. »Soziale und politische Fortschritte sind nur zu erreichen, wenn Menschen ihre Sache selbst in die Hand nehmen.« Eine vielfältige linke Bewegung müsse sich die »Volkssouveränität« wieder aneignen – auch, aber eben nicht nur auf parlamentarischem Wege.