Es war, als hätte die Jubilarin Rosa Luxemburg höchstpersönlich zum 136. Geburtstag eingeladen und auch noch ihr Kommen zugesichert. Am Sonntag im Filmmuseum hatte die Stiftung gleichen Namens mit der Aufführung des Dokumentarfilms "Über die Schwelle" von Stefan Mehlhorn einen Volltreffer gelandet. Überfüllter als an diesem frühlingshaften Vormittag kann ein Kinosaal nicht sein. Selbst eine gehörige Verspätung war nicht ausreichend, um für alle Filmfreunde Stühle zu platzieren. Viele folgten der Veranstaltung stehend.
Der Film des aus Potsdam stammenden 26-jährigen Studenten der Filmakademie Baden-Württemberg hat diese Aufmerksamkeit verdient. Sein Held ist der inzwischen 91 Jahre alte Potsdamer Walter Ruge. Dessen ungewöhnliches und hochdramatisches Leben ist Thema eines sich ungewöhnlich undramatisch gebenden Films, vor dessen Start sich der Regisseur wünschte: "Es darf gelacht werden."
Zum Lachen besteht allerdings seltener Veranlassung, als es danach mancher glaubte, denn streng genommen erfüllt das Leben Ruges alle Merkmale einer Tragödie. Als junger Kommunist floh er vor den "Hakenkreuzlern", wie er sagt, ins "Vaterland der Werktätigen". Dort in der UdSSR lebt er sich als Sowjetbürger ein, bis ihn der lange Arm der Geheimpolizei erreicht und er zum "Volksfeind" wird. Zehn Jahre Arbeitslager und anschließende Verbannung machen ihn zum Entrechteten und Opfer. Dem Morgenrot entgegen ging es nach Sibirien in einen "Ozean von Gewissenlosigkeit", wie er das Lagerleben erinnert.
Hier aber lernt er auch seine Frau Irina kennen, und in der fernen Stadt Igarka heiraten sie. Wenn Ruge einmal von der "Roten Inquisition" redet, so geschieht das eher beiläufig. Sein starker, von einem enormen Positivismus geprägter Charakter verbietet das öffentliche Wehklagen. Selbst als Ruge mit der Filmcrew noch einmal an die Stätten des Leids reist, ist ihm der Kontakt mit alten Freunden und die Begegnung mit den jetzt dort Lebenden wichtiger als das Suchen nach Schuld.
Eindrucksvoll sind auch seine Auftritte in der Potsdamer Steuben-Gesamtschule. Sein ungeschminkter Erzählstil hinterlässt bei seinen jungen Zuhörern sichtbar Eindruck. In der Diskussion im Anschluss an den Film wird er sagen: "Generationsprobleme gibt es nicht; es gibt nur Idioten, die sich nicht auf junge Leute einstellen können."
Auch das Filmteam und sein Hauptdarsteller stellten bei der Reise in die Weiten des russischen Subkontinents anscheinend ein äußerst symbiotisches System dar, bei dem sich die Generationen erfolgsorientiert ergänzten. Auf die Frage an den Regisseur, warum er denn einen so wunderbar langsamen, nicht an den gängigen Musikvideoclip-Stil orientierten Film gemacht habe, kontert Mehlhorn trocken: "Das hätte auch schlecht zu Walter gepasst."
Pressemeldung | Dem Morgenrot entgegen nach Sibirien
Der Potsdamer Stefan Mehlhorn drehte einen berührenden Dokumentarfilm über Walter Ruge (Maerkische Allgemeine Zeitung, 5.3.2007)